17 Juli, 2023

Wer war “Inge Joseph aus Darmstadt”?

Eine Spurensuche und ein Prolog

In der romanhaften Erzählung »Mit dem letzten Schiff« von Evelin Hasler taucht an einer Stelle eine Inge Joseph aus Darmstadt auf, die als Kind nach La Hille und später in das berüchtigte Internierungslager Le Vernet kommt. Ich habe mich sofort gefragt: Ist das nur eine der vielen erfundenen Figuren im Buch oder hat es dieses Mädchen wirklich gegeben? 
Und wer war diese Inge Joseph aus Darmstadt?

Ich mache mich auf Spurensuche. Schon eine kurze Recherche im Internet führt mich über die Seite von EHRI auf eine Seite des United States Holocaust Memorial Museums mit biographischen Angaben zu einer Familie Joseph aus Darmstadt und ihrem online zugänglichen Nachlass an Fotos und Dokumenten:
Leonore Gumpert (1922-2008) was born Lieselotte Lina (Lilo) Joseph to Julius Joseph (1885-1959) and Clara Joseph (nee Neu, 1891-1942) and lived with her parents and sister, Inge (1925-1983), in Darmstadt. Julius Joseph was arrested on false charges in 1936, released and escaped to England in 1939, and immigrated to the United States in 1940. Leonore immigrated to the United States in 1938, settling in Chicago. Inge joined a Kindertransport to Brussels in 1939 and stayed with relatives and then in a home for refugee children. When Germany invaded Belgium, Inge was evacuated with the other children to Seyre (Haute Garonne) and then to Chateau la Hille near Pamier (Ariège). She escaped to Switzerland in 1943, immigrated to the United States in 1946, and married Frank Bleier. Clara Joseph (1891-1942) was deported via Piaski to Trawniki and perished.

Inge, Lilo und Mutter Clara Joseph

Die literarische Figur von Eveline Hasler hatte also eine reale Entsprechung.
Wie ich weiter lese, wurde Clara Joseph, die Mutter von Inge, 1942 nach Piaski deportiert und kam in Trawniki um. Aber Inge Joseph überlebte den Holocaust!
Auch bei Wikipedia finde ich schnell einen Eintrag, dass es in Darmstadt einen Stolperstein für Clara Joseph geben soll.

Bei der Suche nach dem Elternhaus von Inge Joseph in Darmstadt gab es allerdings einige Verwirrungen, da ich schon lange nicht mehr im Johannesviertel in Darmstadt war. Ich suchte verzweifelt an der falschen Stelle am Viktoriaplatz, den ich auch erst auf Umwegen fand, und erst nach weiteren, eigentlich ziemlich peinlichen Fehlversuchen fand ich das Haus bzw. den Ort, an dem das Haus einmal stand. Es stand am Alicenplatz und hatte die Adresse Alicestraße 12, wurde im Krieg zerstört, danach abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, der heute eine andere Adresse hat. Der Stolperstein war auf der Straße leicht zu entdecken:

Alicenplatz Darmstadt

Doch die größte Überraschung kam erst später. Auf der Suche nach Inge J. Bleier, so der spätere Ehename von Inge Joseph, wurde ich bei Amazon fündig. Drei Veröffentlichungen von ihr wurden angezeigt, zwei Bücher über Maternity Nursing (Entbindungspflege), eines davon 1984 sogar auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, und, was mich völlig euphorisierte, eine Biographie mit autobiographischen Anteilen.

Der zweite Autor der Biographie, David E. Gumpert, ist ihr Neffe, der Sohn ihrer Schwester Lilo. Er schrieb das Buch auf der Grundlage eines ursprünglichen Buchentwurfs seiner Tante, der mehr als 60 Seiten umfasste. Das Manuskript fand jedoch 1959 bei amerikanischen Verlegern kein Interesse, da, so hieß es, Anne Franks Tagebuch gerade erschienen und der Markt damit abgedeckt sei.

Weitere Recherchen ergaben schnell, dass das Buch sowohl in der Bibliothek der TU Darmstadt als auch in der Stadtbücherei Darmstadt ausgeliehen werden kann. In der Stadtbücherei habe ich es dann ausgeliehen.

Wer war also Inge Joseph aus Darmstadt? Wer und was brachte sie nach La Hille in Südfrankreich, dem Kinderheim für verfolgte jüdische Kinder? Was hat sie erlebt und vor allem: Wie hat sie überlebt? Und was können wir daraus lernen? 
Geduld, liebe Leserinnen und Leser, bald mehr an dieser Stelle. Bleiben Sie dran!

Inge Joseph #1: Kindheit in Darmstadt

 Alle Angaben zu Inge Joseph und auch die Fotos stammen aus der (Auto-)Biografie: 
Inge Joseph Bleier & David E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi  Europe.
William B. Eerdmans Publishing Co.
Grand Rapids, Michigan  / Cambridge UK. 2004.
Wo immer möglich, versuche ich, Inge Joseph selbst mit Zitaten aus ihrem Buch zu Wort kommen zu lassen. Damit soll ein Höchstmaß an Authentizität gewährleistet werden.
Der Originaltext ist (logischerweise) durchgehend in englischer Sprache verfasst. Um den Zugang zu erleichtern, habe ich die Zitate in der Regel mit Hilfe von deepl.com/translator  übersetzt.

Ein glücklicher Beginn                                                akt. 21.11.23

Inge Joseph wird am 19.September 1925 als zweite Tochter von Julius Joseph (1885-1959) und Clara Joseph (geb. Neu, 1891-1942) geboren und wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester Lieselotte in Darmstadt in der Alicenstraße 12, direkt am kleinen Alicenplatz.
 

Der Vater hat mit seinem Vater Hermann Joseph, der in der gleichen Straße Nr. 21, dem "Louvre", wohnt, das Geschäft des Großvaters übernommen. Sie betreiben in der Pallaswiesenstr. 153 am äußersten westlichen Stadtrand mit dreißig Mitarbeitern, überwiegend Frauen, eine Dampf-Talgschmelze und stellen aus dem Fett von Rindern und Schafen Rohstoffe für Schuhcreme und Seife her. Das Geschäft scheint lange Zeit gut gelaufen zu sein. Inge wird in ein gediegenes bürgerliches Milieu hineingeboren. Sie schreibt:
Wir wohnten im schönsten Teil Darmstadts, einer angenehmen, kleinen deutschen Stadt, etwa fünfundzwanzig Kilometer südlich von Frankfurt. Es gab elegante Wohnhäuser, gepflegte Parks und Straßenbahnen, die sich durch die Stadt schlängelten. [...]
   Wir hatten ein großes, luftiges Haus, drei Stockwerke hoch, mit vielen Schlafzimmern. Es lag am Alicenplatz, einer breiten Straße mit vielen Bäumen und Blumen. Damals war der Besitz eines Hauses in der Stadt ein Zeichen von besonderem Wohlstand. Meine deutlichste Erinnerung an unser Haus ist die kirschholzgetäfelte Bibliothek im ersten Stock mit vielen Büchern, in der mein Vater gerne seine wenigen freien Stunden mit Lesen und Zigarrenrauchen verbrachte. Wir hatten sogar eine Haushälterin, die das Haus blitzsauber hielt, einkaufte, kochte und auf Lilo und mich aufpasste. (S.7)
Die Familie hatte schon Telefon!

Familie Joseph, ca. 1928

Inges liebste Freizeitbeschäftigung ist das Lesen. Bis zu vier Stunden am Tag liest sie Dickens, Goethe, Marlowe; daneben treibt sie viel Sport, vor allem Tennis mit einer Cousine. Im Sommer gibt es sonntags Ausflüge in die Umgebung mit Oma Josephine (Neu, der Mutter von Inges Mutter). 
Die Familie ist sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits jüdisch geprägt. Laut Inge ist ihre Familie aber eher “reform-jüdisch”, d.h. sie leben nicht nach den strengen Regeln des jüdischen Glaubens. Vor allem die Familie der Mutter war sehr liberal, zwei Onkel waren “sogar” mit katholischen Frauen verheiratet. Inge schreibt:
Religion war in meiner Familie eine widersprüchliche Angelegenheit. [...]
Papas Familie war viel orthodoxer. Seine drei Schwestern heirateten in orthodoxe jüdische Familien ein.[...] Was mich betrifft, so lernte ich Hebräisch und die biblischen Geschichten und fand diese Lektionen eigentlich ganz gut. (S.9)
Inge, Liselotte und Mutter Klara Joseph

Für die bürgerliche Familie Joseph schien alles gut zu laufen. Das änderte sich bald.

Der organisierte Antisemitismus fasst Fuß

Waren die Geschäfte für Julius Joseph bis Ende der zwanziger Jahre sehr erfolgreich, so änderte sich dies mit der Wirtschaftskrise. Auch der väterliche Betrieb litt darunter. Ende 1931 standen einem Betriebs- und Privatvermögen von 194.165 RM Schulden in Höhe von 427.289 RM gegenüber. Die Beträge reichten von wenigen Reichsmark bis zur Höchstsumme von fast 300.000 RM bei der Volksbank Darmstadt.
Der Konkurs konnte nur durch einen gerichtlichen Vergleich mit den Gläubigern, vor allem der Darmstädter Volksbank, abgewendet werden.
Inge schreibt:
Papa arbeitete wie ein Hund, aber die Geschäfte liefen nicht gut. Es war schwer zu sagen, wie viel davon auf Papas Inkompetenz zurückzuführen war und wie viel darauf, dass seine Kunden es vermeiden wollten, mit einem jüdischen Geschäftsinhaber zu tun zu haben. Papa sprach natürlich nie darüber, wie schlecht die Dinge liefen, aber es war klar, dass sich unser Lebensstandard verschlechterte. Zunächst vermieteten wir den dritten Stock unseres Hauses als Wohnung an ein Ehepaar, das ein fünf- oder sechsjähriges Kind hatte. Es war ein Schrecken, ich hörte es über mir hin- und herlaufen, wenn ich versuchte zu lernen. Dann wurde das Hausmädchen entlassen. Dann begannen wir, Zimmer in unserem zweiten Stock an Studenten einer nahe gelegenen Universität zu vermieten. Die samstagabendlichen Opernbesuche meiner Eltern wurden seltener. Die leckeren Braten verschwanden von unserem Speiseplan. (S.10)
Kurzfristig besteht die Absicht, nach Uruguay auszuwandern, aber die Idee zerschlägt sich, vermutlich aus Geldmangel, trotz des Verkaufs aller Immobilien und der Entrichtung der Steuern.

Auch der Alltag entwickelt sich für Inge zunehmend antijüdisch:
Ich konnte schon damals erkennen, dass unser Leben in die falsche Richtung ging. Meine beste Freundin, Inge Vogel, hatte ohne ersichtlichen Grund aufgehört, mich auf dem Weg zur Schule von zu Hause abzuholen. Ich kannte den Grund. Wenn mich jemand an den Haaren zog oder mich während des Unterrichts von hinten zwickte, wurde ich immer von der Lehrerin gescholten oder bestraft und nicht das nichtjüdische Kind, das die Sache ausgelöst hatte. Ich ahnte, dass die wachsende Feindseligkeit immer schlimmer werden würde und wir irgendwie immer weniger Möglichkeiten haben würden, ihr zu entkommen. Natürlich konnte ich nicht wissen, dass Hitler Millionen von Juden ermorden würde, aber mein Instinkt sagte mir, dass die gesamte Atmosphäre ungesund war und sich wahrscheinlich weiter verschlimmern würde. (S.11f)

Gesellschaftlicher Abstieg
Wenige Jahre später traf die Familie ein weiterer Schicksalsschlag. Am 4. November 1936 wird der Vater verhaftet und beschuldigt, ranziges Fett verkauft zu haben, was zwar stimmt, aber legal war, da das Fett nicht zum Verzehr, sondern als Rohstoff für Schuhcreme und Seife bestimmt war. Die Mutter vermutet, dass die Mitarbeiterinnen den Vater “verraten” haben, es könnte sich aber auch um einen Nazi-Geldgeber gehandelt haben, bei dem Julius Joseph in Schulden geraten war. 

Die Verhaftung macht der Mutter, die wenig Ahnung von Papierkram hat, aber auch dem Vater, der von Beruhigungstabletten abhängig ist, zu schaffen. Wirtschaftlich geht es weiter bergab. Das Unternehmen geht schließlich in Konkurs.

Die Abwärtsspirale der Familie Joseph drehte sich weiter, sie beschleunigte sich sogar. Wir verloren unser Haus, als Mutti die Hypothekenzahlungen nicht mehr leisten konnte. Das Gericht und die Bankbeamten klebten gelbe Etiketten mit dem Hinweis auf den Konkurs an verschiedene Möbelstücke in unserem Wohn- und Esszimmer, die wieder in Besitz genommen werden sollten. Wir waren gezwungen, in eine dunkle Zweizimmerwohnung in einem armen Viertel der Stadt zu ziehen, wo wir uns mit zwei anderen Familien ein stinkendes Badezimmer im Flur teilen mussten. (S.15)
Es war die damalige Wendelstadtstraße 40, keine 300 Meter von der alten Wohnung entfernt, aber schon am Rand des Viertels, näher an der belebten Frankfurter Straße.
Ende 1938 wurde die Straße in Sudetengaustraße umbenannt, seit 1945 heißt sie Wilhelm-Leuschner-Straße. Das Haus sieht nicht gerade ärmlich aus, aber: Es war ein Mietshaus!

Wilhelm-Leuschner-Str. 40

Im Adressbuch der Stadt Darmstadt von 1940, S.88,  ist Joseph, Julius Israel , Fabrikant noch mit der Adresse: Sudetengaustr. 40 aufgeführt, obwohl er schon längst nach England geflüchtet war.

In der Alicenstraße 12 wohnten damals ein Metzgermeister (Brauer, Wilhelm), ein Tierarzt (Müller, Adolf) und ein Rektor (Wißner, Wilhelm). Brauer, zuvor Pächter der "Krone" in Darmstadt, hatte das Haus gekauft.
Das Glück der neuen “Bewohner” währte jedoch nicht lange. Bei einem der ersten großen Bombenangriffe auf Darmstadt in der Nacht vom 23. auf den 24. September 1943 wurde das Haus völlig zerstört und nie wieder aufgebaut.
 
Blick auf das zerstörte Haus Alicestr. 12

Auflösung der Familie

Ende 1937, mehr als ein Jahr nach seiner Verhaftung, wird Julius Joseph in einem Prozess vor dem Landgericht Darmstadt zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt, und 
trotz Muttis Bitten, ihn in einem nahe gelegenen Gefängnis unterzubringen, in ein Gefängnis geschickt, das vier Stunden Zugfahrt von Darmstadt entfernt lag. (S.15)  In Zweibrücken!
Inge lebt nun allein mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Lilo in der kleinen Wohnung. Lilo ist besessen von der Idee , in die USA zu gehen. Ihr Vater hat einen wohlhabenden Cousin in New York, zu ihm will sie. Im Juni 1938 gelingt ihr die Auswanderung, am 14. Juli verlässt sie mit dem Schiff Hamburg und damit Deutschland.
I really was happy for Lilo. But I was also unhappy for me. (S.16)
Sie schreibt über sich und das Verhältnis zu ihrer Mutter:
Ich glaube, dass ihre Abhängigkeit von mir eine Erklärung dafür ist, warum Mutti nicht darauf gedrängt hat, dass ich in die Vereinigten Staaten geschickt werde. Dann wäre sie ganz allein gewesen und hätte sich große Sorgen gemacht, dass ihre beiden Kinder auf sich allein gestellt wären. Ich kann nur vermuten, dass sie immer noch nicht ganz begriffen hat, welchen Gefahren wir ausgesetzt waren, wenn wir in Deutschland blieben. Sie muss sich eingeredet haben, dass ich als Zwölfjährige zu jung war, um allein weggeschickt zu werden, und dass sie, wenn sie Lilo erst einmal ins Ausland geschickt hatte, eine Zeitlang warten konnte, bis ich in Lilos Alter war. [...]
   Eines der schwierigsten Dinge für Mutti war Essen auf den Tisch zu bringen. Es gab keine Arbeit für Juden, und selbst wenn es sie gegeben hätte, hatte sie keine besonderen Fähigkeiten. So war sie gezwungen, Tafelsilber und andere Besitztümer zu verkaufen und bei Verwandten und Freunden zu betteln oder zu borgen. Ich erinnere mich lebhaft an einen Verwandten in Frankfurt, der uns wunderschöne selbstgebackene Kuchen schickte. Wunderbar, aber manchmal war das unser einziges Essen, zusammen mit heißem Kakao. Ich mochte Kuchen so gerne wie jeder andere, aber es ist nicht sehr befriedigend, wenn er das Einzige zum Abendessen ist. (S.17)
Der Kontakt zu ihrer Schwester reißt in den folgenden Monaten und Jahren nicht ab. Von August 1938 bis Ende 1940 schreibt Inge regelmäßig Briefe an ihre Schwester in den USA. Sie berichtet von ihrem Leben in Darmstadt, von ihren Sorgen, Wünschen und Hoffnungen, vor allem aber von ihrem sehnlichen Wunsch, selbst ausreisen zu können.
Anfangs schickt sie ihre Briefe monatlich, später, 1939, sogar alle zwei Wochen. Oft verbunden mit der Klage, nicht ebenso oft Antwort zu erhalten.

Als jüdisches Kind muss Inge nach den Sommerferien 1938 die Goetheschule verlassen, eine reine Mädchenschule, die nicht weit von Inges alter und neuer Wohnung liget. Von nun an besucht sie die liberale Synagogenschule Darmstadt. Neben den klassischen Schulfächern wird sie auch in Hebräisch unterrichtet.

Wir wissen: Die Zukunft für die Juden in Deutschland wird noch düsterer. Auch für Inge.

Anmerkung: Mehr Informationen zur "Arisierung" jüdischer Unternehmen in Darmstadt hat vor Jahren die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen
Gruppe Darmstad
t öffentlich zugänglich gemacht: Klick

Inge Josep #2: Von Darmstadt nach Brüssel

 Alle Angaben zu Inge Joseph und auch die Fotos stammen aus der (Auto-)Biografie: 
Inge Joseph Bleier & David E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi  Europe.
William B. Eerdmans Publishing Co.
Grand Rapids, Michigan  / Cambridge UK. 2004.
Wo immer möglich, versuche ich, Inge Joseph selbst mit Zitaten aus ihrem Buch zu Wort kommen zu lassen. Damit soll ein Höchstmaß an Authentizität gewährleistet werden.
Der Originaltext ist (logischerweise) durchgehend in englischer Sprache verfasst. Um den Zugang zu erleichtern, habe ich Zitate in der Regel mit Hilfe von deepl.com/translator  übersetzt.


Pogromnacht 9. November 1938


In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verschärft sich in Deutschland die politische Situation für die Juden. Sinnbildlich dafür steht die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November.
Inge schreibt:
Hitler muss gehört haben, dass mir meine neue Schule gefiel, denn es dauerte nicht lange, bis er sie ganz abschaffte. Vier Monate nach Lilos Abreise in die Vereinigten Staaten, am 9. November 1938, wurde die Düsternis unserer Zukunft kristallklar. An diesem Abend löschten Mutti und ich das Licht im Wohnzimmer und saßen schweigend da und lauschten dem zerbrechenden Glas jüdischer Schaufenster und den Schreien jüdischer Männer, die vom Mob oder der Polizei abgeführt wurden. Wir hatten kein Telefon, also konnten wir auch nicht mit unseren Verwandten kommunizieren. Es war Kristallnacht. Ich fühlte mich furchtbar verletzlich und fragte mich, ob der Mob zu unserer Wohnung kommen und uns abschleppen würde. Aber irgendetwas sagte mir, dass das unwahrscheinlich war, da es genug Männer gab, die sie auf Trab hielten. Alles, was ich fühlte, war Taubheit.
Später am Abend, als es so aussah, als sei die Krise endlich vorbei, konnten wir, abgesehen von dem beißenden Rauchgeruch, den Schein der Feuer am Himmel sehen. Am nächsten Morgen erfuhren wir von Verwandten, dass Banden von Deutschen die Liberale Synagoge in Brand gesetzt hatten. So viel zur Schule. 
Inzwischen hatte jeder die Botschaft verstanden, laut und deutlich. Hitler war es todernst damit, die Juden loszuwerden. Wir sollten eigentlich schlaue Leute sein, aber in dieser Situation waren wir sicherlich langsame Lerner.
Unter den Verwandten und Freunden meiner Familie wurde die Auswanderung zum Hauptziel des Lebens. Das einzige Problem war, dass uns jetzt, wo wir endlich bereit waren zu gehen, niemand haben wollte. Und ich meine, niemand. Nicht Amerika, England, Kanada und keines der europäischen oder südamerikanischen Länder. Ein paar Leute flüchteten zwar noch nach China, aber das sollte ein miserabler Ort zum Leben sein, mit genauso vielen täglichen Gefahren wie in Deutschland. Die Kontingentierung und die Beantragung von Visa wurden für viele Menschen zu einer Übung in Vergeblichkeit.
Trotzdem bemühte sich Mutti, beim amerikanischen Konsulat Quotennummern für uns zu bekommen. Sie korrespondierte mit unseren Verwandten in England, Belgien und Amerika und bat sie inständig, uns ein Visum zu schicken. Das Leben in Nazi-Deutschland in den späten 1930er Jahren war für uns wie ein Strick um den Hals. Die einzige entscheidende Frage war: „Wird es möglich sein, das Land zu verlassen, bevor der Strick enger gezogen wird?"
Der einzige Hoffnungsschimmer für mich waren die sich neu bildenden »Kindertransporte« nach England und Belgien. Nach der Kristallnacht öffneten diese Länder ihre Türen einen Spalt breit, aber nur für Kinder - Erwachsene waren nicht zugelassen. Also beantragte Mutti für mich eine dieser begehrten Ausreisegenehmigungen, nach England oder Belgien. (S. 20f)
Das war letztlich fatal, wie Inge meint, denn ihre Mutter ahnte nicht, welchen gewaltigen Unterschied es machte, ob man nach England oder nach Belgien fliehen würde. (S. 22)

Kindertransport nach Brüssel 


Schon vor den Ausschreitungen am 9. und 10. November, der sogenannten Kristallnacht (ein Begriff, den auch Inge in ihrem Brief oben verwendet!), bemühten sich jüdische Organisationen um die Evakuierung jüdischer Kinder ins sichere Ausland. Auf diese Weise gelangten bis zum Kriegsbeginn mehr als 10.000 Kinder nach Großbritannien, Belgien, Frankreich, Schweden, in die Schweiz und in die Niederlande. Voraussetzung war in der Regel, dass die Kinder in Privathaushalten aufgenommen wurden. Staatliche Unterstützung war nicht vorgesehen. 
Weitere Informationen auf Wikipedia.

“Transportbutton” für die jüdischen Kinder 
Am 11. Januar geht es auch für Inge los. Gemeinsam mit ihrer Mutter fährt sie mit dem Zug von Darmstadt nach Köln, von wo aus der Transport der jüdischen Kinder nach Brüssel startet. 

Die Mutter bleibt zurück, hilflos der deutschen Terrorpolitik gegen die Juden ausgeliefert und einer ungewissen Zukunft entgegensehend.
Als der Zug aus dem Kölner Bahnhof ausfuhr, stand sie regungslos auf dem Bahnsteig, in ihrer charakteristischen Pose mit der rechten Hand auf der rechten Hüfte. Als ich sah, wie ihre zierliche Gestalt immer kleiner wurde, vermisste ich sie bereits, und ich wusste, dass ich sie noch mehr vermissen würde. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie groß das Loch sein würde, das ihre Abwesenheit in mein Wesen reißen würde. Jahre später verbrachte ich Stunden im Drogenrausch damit, nach ihr zu rufen. [...]
Endlich war ich raus aus Deutschland. Ich war auf mich allein gestellt. Nein, es war nicht Amerika, aber Brüssel war frei. Als Dreizehnjährige verstand ich nicht wirklich, dass die Nähe zu Deutschland die Stadt extrem verwundbar machte. Alles, woran ich denken konnte, war die Möglichkeit, dass ich Filmstars sehen könnte.”(S.24)
In Brüssel lebt ein Cousin des Vaters, Gustav Wurzweiler*, genannt Go, der sich bereit erklärt hat, Inge aufzunehmen. Wie Inge schreibt, ist er zwar nett zu ihr, aber weder er noch seine Frau Loulou ** (von ihr “Lou” genannt) haben eine Ahnung von Kindererziehung. Sie sind sehr wohlhabend, leben in einem Haus mit allem Luxus und pflegen einen anspruchsvollen Lebensstil, zu dem auch der obligatorische Tennisnachmittag am Sonntag gehört. Gustav Würzweiler ist, wie Inge feststellt, sehr religiös, ohne die freiwilligen Glaubensregeln begründen zu können.
Zwischen der noch sehr jungen Loulou und Inge entwickelt sich ein sehr enges, fast intimes Verhältnis.

Inge besucht in den folgenden Wochen eine private höhere Schule (École Fernand Cou), „wie die Eleonorenschule in Darmstadt”, schreibt sie am 9.2.1939 in einem Brief an ihre Schwester Lilo und berichtet stolz, dass sie sehr gute Noten in der Schule hat. 

Von nun an bis Mitte 1940 schreibt sie regelmäßig an ihre Schwester in Chicago. Anfangs alle 14 Tage, später in größeren Abständen. Oft sind die Briefe mit der Klage verbunden, zu wenig von der Schwester zu hören. Inhalt der Briefe ist fast immer die Schilderung ihres Alltags, Cafébesuche, Klatsch und Tratsch über die Gastgeber und über Verwandte, die auf dem Weg ins Exil in Brüssel vorbeischauen.

Briefauszug vom 23.7.1939

Die Handschrift ihrer Briefe zeigt die ganze innere Zerrissenheit der jungen Inge. Oft wechselt sie zwischen präziser Handschrift und kindlichem Gekritzel. Stolz fügt sie manchmal französische Versatzstücke ein oder demonstriert ihrer Schwester ihre (noch bescheidenen) Englischkenntnisse. Private Briefe einer Dreizehnjährigen eben.
Durch diese Briefe erhalten wir ein recht anschauliches Bild von ihrem Leben in Brüssel und von den Wünschen und Träumen einer Jugendlichen im Exil.

Die Briefe an ihre Schwester Lilo sind, einschließlich eigener Übersetzungen ins Englische von Inges Hand, online zugänglich: 

Eines Nachmittags muss sie feststellen, dass Onkel Go zwar Pläne für den Kriegsfall hat, Inge aber nicht in diese Pläne einbezogen ist.

Inge ist noch keine 14 Jahre alt und lebt nun getrennt von ihren Eltern und ihrer Schwester im Exil in Brüssel. Wie soll, wie wird es weitergehen?
Demnächst mehr!


*Von Gustav Wurzweiler, eigentlich Würzweiler, wird später noch einmal die Rede sein. Ihm und seiner Frau gelang die Ausreise in die USA, wo sie ihr Vermögen noch vermehren konnten. Inge und er trafen sich dort wieder - mit überraschendem Ausgang.

** Eigentlicher Name: Maria Luise, geb. Bloch; geboren 17.5.1906 in Brüssel.

Inge Joseph, #3: Gerettet in Brüssel

Inge ist noch keine 14 Jahre alt - und schon Flüchtling, weil sie als Jüdin in Deutschland nicht mehr sicher war.

Das Leben bei Onkel und Tante in Brüssel ist sehr angenehm. Die Verwandten sind wohlhabend, die Tante ist jung und der Onkel viel unterwegs. Inge führt ein weitgehend selbstständiges Leben mit allem Komfort und allen Vergnügungen, die sich ein Mädchen von noch nicht einmal 14 Jahren erträumen kann: Sonntägliche Restaurantbesuche, schöne Kleider, frei von materiellen Sorgen, und, und und. Der Unterschied zu den letzten Monaten in Darmstadt könnte nicht größer sein. 

Abgeschoben

Onkel Gustav Würzweiler meint, er und seine Frau seien zu viel auf Reisen und könnten sich deshalb zu wenig um Inge kümmern. Mit dieser Begründung wird sie Anfang Februar 1939 an die belgische Familie Feuerstein abgegeben. Es gibt zwar weiterhin Ausflüge mit Onkel und Tante und reichlich finanzielle Zuwendung, aber Inge fühlt sich abgeschoben.

Dennoch gefällt ihr das Leben in der neuen Familie mit der gleichaltrigen Tochter und dem Sohn. Sie spielen endlos Tischtennis, schreibt sie in einem Brief vom 11. Februar 1939, und “die Feuersteins sind meines Erachtens reich, jedenfalls wohlhabend” .
(Kuriosum am Rande: In der von Inge Bleier angefertigten englischen Übersetzung schreibt sie: “As far as I can see Feuersteins are quite wealthy, or at least very rich.”)


In einem Brief vom 7. und 8.3.1939 an Lilo fragt sie: 

"Hast Du vielleicht ein besseres/gutes Sommerkleid für mich, daß Du mir schicken kannst. Ich wäre einfach selig, denn ich habe in Deutschland nur 2 bekommen."
Nöte einer Dreizehnjährigen.

Eines Tages erfährt sie, dass der Onkel den Feuersteins Geld für die Aufnahme von Inge bezahlt hat. Da die Familie Feuerstein aber keine finanziellen Nöte mehr hat, muss Inge die Familie verlassen: “they no longer needed the money and were kicking me out”  und
Ich fühlte mich, als hätte man mir einen Schlag in den Magen versetzt. Ich kam mir auch wie ein Narr vor, weil ich nicht erkannt hatte, dass Geld Teil der Vereinbarung war. Schlimmer noch, ich verstand jetzt, dass alle mich loswerden wollten. Mein Gesicht errötete heiß vor Wut. Die Worte sprudelten aus meinem Mund und waren an Gustav gerichtet. "Ich bin dir völlig egal. Du hast dich nie um Mutti gekümmert. Ich hoffe, dass Hitler nach Belgien kommt, damit du spürst, wie es ist!" Während mir die Tränen in die Augen stiegen, schob ich meinen Stuhl vom Tisch und rannte aus dem Restaurant. (S.34) 
Und Hitler kam ja dann auch.

Von all diesen Nöten und Leiden erfährt man in den Briefen, die Inge an ihre Schwester schreibt, so gut wie nichts. Das Leben in den Briefen scheint schön und abwechslungsreich zu sein, Onkel Gu und Tante Lou kümmern sich liebevoll um die Dreizehnjährige und überhaupt gibt es kaum Probleme mit der neuen Situation.
Elka und Alexander Frank (1944)
Im Juni 1939 erfolgt die Aufnahme in das Kinderheim Général Bernheim. Das Heim wird von dem belgischen Ehepaar Elka und Alexander Frank geleitet. Alex, wie er genannt wird, ist belgischer Agronom.

Es war eine bunte Mischung von Mädchen, die das Heim aufnahm. Der Altersunterschied war groß, die Kinder hatten unterschiedliche schulische Vorbildung, manche stammten aus orthodox-jüdischen Familien, andere waren atheistisch erzogen worden, und sie kamen aus allen sozialen Schichten, aus wohlhabenden bürgerlichen Haushalten ebenso wie aus eher ärmlichen Arbeiterfamilien. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie Juden waren.

Inge hat es nicht leicht

Inge: Oben Mitte - Brüssel 1939
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1149037
Der Einstand im Kinderheim ist für die aus “besseren jüdischen Verhältnissen Brüssels” kommende Inge nicht leicht.
Ich war als das reiche Mädchen mit den teuren Klamotten gebrandmarkt worden, das allen anderen überlegen sein wollte. Die Strafe war Isolation und Schweigen, unterbrochen von gelegentlichen Hänseleien und Gekicher. Tag für Tag, Woche für Woche. Es war, als wäre ich in einer Schale eingeschlossen, und die Schale wurde immer dicker. (S.39)
Ruth Schütz, eine Mitbewohnerin, beschreibt sie als Mädchen  
mit einem Strohhut, der mit allerlei Früchten verziert war, und ihr schickes Kleid war nicht weniger lächerlich als ihr Hut über dem rotblonden Haar und ihr Gesicht und ihr knochiger Körper standen in völligem Widerspruch zu ihrer Kleidung, und als sie uns erzählte, dass sie im Sport hervorragend sei und Auszeichnungen gewonnen hatte, brachen die Mädchen in spöttisches Gelächter aus und nannten sie „Dipl" - kurz für Diplome. (Ruth Uzrad, Ein Mädchen namens Renee, S.74)
Anfang Juli 1939 wird der Vater nach fast drei Jahren Haft entlassen und kommt nach Brüssel; Inge ist erschrocken über seinen desolaten Zustand. Der Vater hat als Vorbestrafter(!) dennoch ein Visum für England bekommen, seine Frau (“Mutti”) und Inge aber nicht, denn es fehlte an Geld für die Ausreisegebühr. Er hofft aber, mit seiner Frau in die USA zu kommen - allerdings ohne Inge.
Eine Welle der Übelkeit rollte durch meinen Magen. Gustav und Loulou würden sichere Häfen ansteuern. Papa, Mutti und Lilo würden glücklich in den Vereinigten Staaten wieder vereint sein. Und wo würde ich sein? In einem Flüchtlingsheim außerhalb von Brüssel verrotten? Warum schien sich niemand für mein Schicksal zu interessieren? (S.41)
Sie ist kurz davor, aus dem Fenster zu springen. Ruth Schütz (siehe unten), die ein ähnliches Schicksal hat, rettet sie. Von da an hat sie engeren Kontakt zu den anderen Mädchen im Heim. In einem Brief vom 10.7.1939 an ihre Schwester vermeidet sie jeden Hinweis auf den elenden Zustand des Vaters und erst recht auf ihre eigene Verzweiflung. Sie bittet ihre Schwester lediglich, ihr kein Geld zu schicken, sondern es für die Eltern zu sparen, wenn diese in die USA kommen würden. Eine Anmerkung zu Ruth Schütz: Ruth bleibt bis Ende 1942 ihre Leidensgenossin. Erst dann trennen sich ihre Wege. Ruth Schütz gelingt es dank einer gefälschten Carte d'Identité 1943 in den französischen Untergrund abzutauchen. Sie wird für die Resistance arbeiten und nach dem Krieg nach Palästina auswandern. Auch von ihr gibt es Erinnerungen an die Zeit im Exil; siehe ihre Autobiographie:
Ruth Schütz, (auch: Ruth Uzrad / Ruth Usrad / עוזרד, רות): Entrapped Adolescence, Hebräisch 2006; Deutsch 2015 bei Independently published (23. Dezember 2020) unter dem Titel: Ein Mädchen namens Renee.

Im Heim
Der Sommer 1939 schien wie eine endlose Dummheit. Wir verbrachten Stunden damit, im Hinterhof Völkerball zu spielen. Die anderen Mädchen wollten immer in meiner Mannschaft sein, weil ich den großen Gummiball hart und präzise werfen konnte und schnell genug war, um aus dem Weg zu gehen, wenn der Ball zu mir geworfen wurde. Wenn es draußen regnete oder kalt war, setzten wir uns in Gruppen auf einen Teppich im Wohnzimmer des Heims und spielten ein Spiel namens "Fünf Steine". Ziel dieses einfachen Würfelspiels war es, als Erster fünf Steine zu sammeln. Das Spiel wird nach einiger Zeit geistlos, aber es hielt uns bei Laune. (S. 46)
Sonntags gibt es weiterhin Ausflüge mit Onkel Gustav und Lou. Mädchen, die keine Verwandten in Belgien haben, werden manchmal von Wohltäterinnen des Heims eingeladen, mit deren Kindern zu spielen, was nicht allen Mädchen gefällt. (S.48) Inge blickt inn ihren Briefen an Lilo blickt Inge fast immer optimistisch in die Zukunft. Sie spricht davon, bald mit Mutter und Vater in den USA zu sein und "ich tanze mit dir in den Himmel hinein", zitiert sie einen aktuellen Schlager" in einem Brief vom 23. Juli. Lilo soll nichts von ihren Ängsten mitbekommen. So vergeht das Jahr bis zum Herbst 1939. Am 28.8.1939, vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, schreibt sie Lilo einen Brief, in dem zum ersten Mal das Thema "Kriegsgefahr" zur Sprache kommt:
Jetzt sitze ich im Garten, überlege mir was Chamberlain zum Krieg sagen wird und habe schlechte Laune. Gestern durften wir keinen Ausflug machen, da die Deutschen verhaßt sind und nicht jeder weiß, daß wir Flüchtlinge sind.

Und: 

Ich glaube nicht an einen Krieg.

Und noch einmal, diesmal einschränkend: 

Ich glaube noch nicht an einen Krieg., wenn ich aber die Flieger und Autos höre, werde ich unsicher. So im Ungewissen ist entsetzlich. Wenn das Schauspiel losgeht ist Belgien der Kampfplatz. da sich hier England, Frankreich und Deutschland treffen. Bon amusement. A war is the most terrible thing, which exist in the world.
Es ist der einzige Brief, in dem Inge so dezidiert zur aktuellen politischen Lage Stellung nimmt. Man ahnt, was in ihr vorging. Der Krieg rückt näher Nach dem Überfall Hitlers auf Polen im September 1939 wird die Lage der deutschen Flüchtlinge, vor allem der deutschen Juden, in Belgien prekär. Die Ausflüge der Schüler in die nähere Umgebung werden seltener, denn in Belgien macht sich langsam eine deutschfeindliche Stimmung bemerkbar. Inge muss, wie auch andere Kinder des Heims, eine näher gelegene Handelsschule (École Commerciale) besuchen, wo sie Buchhaltung, Rechnungswesen und andere Bürotätigkeiten lernt. Das stößt nicht bei allen Mädchen auf Begeisterung, aber Inge nimmt es in Kauf, um später ihre Familie ernähren zu können. Aus einem Brief ihrer Mutter vom April 1940 erfährt sie, dass die Ausreiseversuche ihrer Mutter in die USA immer wieder scheitern.
"Mutti war eine Gefangene der Hölle. Ich war eine Gefangene einen Stock darüber”. (S.54)

Im  Brief vom 15.4.1940 an ihre Schwester schreibt sie dennoch:

Ich denke also, daß ich in spätestens einem Jahr drüben bin, denn in Brüssel will ich nicht bleiben: Hier werde ich es nie zu etwas bringen.[...] Also, ich komme bald, du kannst schon auf den Bahnhof gehen.

Groß ist der Bedarf an Träumen, wenn die Zeiten dunkel sind.

Inge ist ein 14-jähriges Mädchen, das in Brüssel im Exil lebt. In einem Kinderheim, weit weg von ihrer Familie und ihren Verwandten.
Wie soll sie in die USA kommen?

Inge Joseph #4: Flucht aus Brüssel

 Zeitenwende

Das Leben in Brüssel geht vorerst fast ungestört weiter. Es gibt zwar kleinere Unannehmlichkeiten, wie den zunehmenden Hass auf die Deutschen und damit auch auf die deutschen Flüchtlinge. Es ist nicht mehr ratsam, auf der Straße Deutsch zu sprechen. Aber ansonsten könnte man fast von Normalität sprechen. Zumindest versucht Inge in ihren Briefen an Lilo diesen Eindruck zu erwecken. “Vom Krieg merkt man nicht viel”, schreibt sie am 14.12.1939 an Lilo. Doch immer öfter schleicht sich ein neues, beunruhigendes Thema ein. Die immer wieder scheiternden Versuche, die Mutter und sich selbst zu retten. Und was es noch nie gegeben hat: Es folgt ein Wutausbruch gegen ihren Cousin Robert (Joseph). In einem Brief vom 18. Januar 1940 schreibt sie:
Dein Robert ist das größte Ekel!!! der Welt. (dreifach unterstrichen) Denn was hat dieser Schuft schon großes getan???????? Ich gehe regelmäßig zu Gustav und will dir mal was erzählen. Robert stellte neu das Affi für Vater und Mutter, nicht für mich. Ich will gar keins haben denn ich will vorerst hier bleiben. Vater will zwar jetzt doch um ein Affi bitten. Aber ich will nicht!!
Zur Erläuterung: Affi(davits) spielten in der NS-Zeit eine herausragende Rolle. Mit ihnen konnten Freunde, Verwandte, aber auch Organisationen außerhalb Deutschlands für einen Verfolgten bürgen, damit dieser in ein drittes Land (USA, Großbritannien, Mexiko etc.) einreisen konnte. Damit wurde bescheinigt, dass der Verfolgte im Aufnahmeland von Privatpersonen oder Organisationen unterstützt wurde und keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen konnte.

Der Krieg holt Inge ein

Am 11. Mai 1940 erlebt Inge den Einmarsch der Deutschen in Belgien: Blitze am Himmel und weiße Fallschirme erschrecken die Bewohner des Kinderheims Général Bernheim. Die telefonisch erbetene Hilfe von Onkel Gustav fällt aus, denn er und seine Frau haben Brüssel sofort nach den ersten Bombeneinschlägen mit dem Auto und unbekanntem Ziel fluchtartig verlassen.

Ihren Freundinnen geht es ähnlich: Hilfe ist nicht zu erwarten, die Situation ist unübersichtlich und verzweifelt. Im Haus geht es drunter und drüber, aber der Lebertran zum Essen wird von der Küchenverwaltung nicht vergessen, beklagt sie sie sich in einem Brief. Die Jugendlichen wechseln von Verzweiflung zu Galgenhumor. Sie singen:
Und der Haifisch, der hat Zähne  
und die trägt er im Gesicht. 
Doch im Magen hat er Lebertran  
und den Lebertran sieht man nicht ...
Vier Tage leben sie unter verschärften Bedingungen im Heim: Nachts, bei Bombenangriffen, schlafen sie im Untergeschoss, tagsüber leben sie für kurze Zeit im Obergeschoss “mit Lebertran”. Inge hört ein Telefongespräch Elkas mit, in dem sie bei einer Regierungsstelle um einen Transport aus Brüssel bittet, um die Kinder vor dem Krieg zu retten; wenn es sein muss, in Güterwaggons.

Am 14. Mai fordert Elka Frank die Kinder auf eine Tasche zu packen und möglichst viele Kleider anzuziehen. Um 4 Uhr nachmittags verlassen sie das Heim.

Flucht

Es beginnt die Flucht mit dem Zug nach Südfrankreich.
Jedes von uns fünfundzwanzig Mädchen trug einen Wintermantel, und alle liefen mit einer ungewohnten Steifheit: Unter unseren Mänteln trug jede von uns zwei oder drei Pullover, zwei oder drei Hosen und ein oder zwei Kleider. Ich schwitzte sehr stark. (S.61)
Elka bringt sie auf dem überfüllten Brüsseler Hauptbahnhof zu einem Güterzug, in den schon andere Kinder “verfrachtet" werden:
Ich hatte wirklich den Tiefpunkt erreicht: Ich befand mich in einem dunklen Güterwaggon, der für Tiere bestimmt war, mit anderen Menschen, deren Haut von Läusen wimmelte. Es gab keinen Platz, um auf die Toilette zu gehen. Nicht ein Fünkchen Privatsphäre. Ich wollte diesem Alptraum einfach nur entkommen - oder sogar durch den Boden fallen. (S.62)

In der Nacht wird der Zug bombardiert, alle sind zu Tode erschrocken, aber der Zug setzt seine Fahrt fort und erreicht am frühen Morgen Frankreich in der Nähe von Abbeville.
Die Franzosen empfingen uns mit offenen Armen. An jeder Station, an der wir anhielten, wurden wir mit freundlichen Worten und einem Haufen Käse- und Tomatensandwiches empfangen. (S.63)
Der erste “Kontakt” mit französischen Toiletten ist für Inge eine unangenehme Überraschung.
Am siebten oder achten Abend der Flucht (nach Edith Goldapper am vierten Abend; ebenso Vera Friedländer, die vom 18. Mai spricht) erreichen sie einen kleinen Ort, etwa 40 km südöstlich von Toulouse entfernt in Okzitanien, wo die Fahrt endet. Zu Inges Überraschung sind auch etwa 50 jüdische Jungen aus Brüssel mit ihnen im Zug gewesen. In 7 km Entfernung finden sie ihre vorübergehende Bleibe:

Südfrankreich, Okzitanien, im Frühsommer? Das klingt doch nicht schlecht?
Inge weiß anderes zu berichten.

Seyre
Das Dorf Seyre hatte etwa hundert Einwohner in seinen acht oder zehn beigen Stuckhäusern entlang der Hauptstraße, und die meisten waren alte Männer und Frauen mit Kindern. Die jungen Männer befanden sich alle im Krieg und versuchten, die deutschen Invasoren zurückzudrängen. Unsere Gruppe von Jungen und Mädchen aus Brüssel verdoppelte also die Einwohnerzahl von Seyre. (S.65)
[...]
Wir gingen die staubige Hauptstraße von Seyre hinunter zu einem langen, grauen, zweistöckigen Gebäude. Als die ersten Mädchen eintraten, schnappten sie nach Luft und hielten sich die Münder zu. Ich erfuhr bald, warum: Hier roch es wie auf einem Bauernhof. Die Mädchen wurden angewiesen, eine schmale Treppe hinaufzusteigen. Die Jungen blieben im unteren Stockwerk. 
Der staubige Holzboden war mit Stroh bedeckt. Enttäuscht, aber zu erschöpft, um sich zu beschweren, zogen wir alle schweigend unsere Mäntel aus, schälten uns von den zusätzlichen Kleidungsschichten und legten uns hin. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. (S.66) 


Inge fühlt sich in den Abgrund geworfen. Sie findet, in Seyre leben sie wie Tiere
Wir hatten unsere eigene Chronik der Pestilenz und Plagen. Erstens hatten wir wenig an grundlegenden Dingen. Für Toilettenpapier in unserem kleinen Plumpsklo oder auf dem Rücksitz mussten wir nach Blättern schnorren. Für Seife mussten wir Sand verwenden, den wir an der Straße ausgegraben hatten. Unsere einzige Kleidung war das, was wir anhatten und im Zug trugen. Ich versuchte, meine Sachen einmal in der Woche zu waschen, aber oft gab es nicht genug Wasser. So hatte ich manchmal halbwegs saubere Kleidung, aber meistens wechselte ich mich mit denselben wenigen schmutzigen Sachen ab.
Wir wussten nicht, woher unsere nächste Mahlzeit kommen würde oder ob sie überhaupt kommen würde. Das einzige Lebensmittel, das wir in einigermaßen ausreichender Menge vorfanden, oder das wir uns zumindest leisten konnten, war Maismehl. Morgens und abends gab es irgendeine Variante von Maismehlbrei. Manchmal war es Maismehl mit Zwiebeln, manchmal war es mit Melasse gesüßtes Maismehl. Mittags war die Hauptmahlzeit gewöhnlich eine Art Eintopf. Manchmal war es ein Eintopf mit echten Fleisch- und Gemüsestücken, aber meistens bestand er aus übel riechenden Tierdärmen, die mit Scheiben von altem Baguette serviert wurden. Ich weiß nicht genau, wie Glora Schlesinger gekocht hat, denn alles, was sie hatte, waren ein paar Töpfe und eine Feuerstelle in der Scheune. Da wir keine Möbel und nur wenige Utensilien hatten, war das Essen eine primitive, erniedrigende Erfahrung, denn wir mussten den Brei im Stehen oder auf dem Boden sitzend essen. (Brief vom 18.19401)
Freundin Ruth Schütz kommentierte trocken: “Das Essen war nicht für den menschlichen Verzehr geeignet.” (Ruth Schütz, S.90)
Fast alle von uns zogen sich Hautwunden zu - wahrscheinlich, weil wir auf Heu schliefen, das nicht gewechselt wurde und immer schmutziger wurde, je mehr Dreck wir von draußen hereinbrachten. (S.68)
Sobald sich eine Hautwunde verhärtete und der Schorf abfiel (was eine Narbe hinterließ), traten mehrere andere an ihre Stelle. [...] Diese Hautprobleme sind nie ganz aus meinem Leben verschwunden. Während ich dies schreibe, sind die Wunden an den Beinen, die ich kürzlich entwickelt habe, nicht verheilt und haben mich sogar für zwei Wochen ins Krankenhaus gebracht. (S.69)
Später kommt zu den beschriebenen Problemen noch eine Läuseplage hinzu. Sie wird bekämpft, indem die Mädchen ihre Haare mit Benzin waschen und schließlich alle Kinder komplett kahl geschoren werden. Für viele Mädchen eine Katastrophe. Es gibt auch Übergriffsversuche durch betrunkene französische Soldaten. Das Haus der Mädchen muss deshalb auch tagsüber verschlossen bleiben. Sie waren Gefangene in der Freiheit.

In Seyre angekommen: Die Mädchen aus dem Heim Général Bernheim, Zuun/Brüssel
und die Jungen aus dem Heim Speyer in Anderlecht.

Inge ist in der 2. Reihe von oben im Zentrum; ihre Arme liegen auf den Schultern von Edith Goldapper (links) und Alix Grabkowitz (rechts).

Mehr Informationen zur Entstehunggeschichte des Fluchtpunkts Seyre beim
United States Holocaust Memorial Museum unter “About this Photograph

Die politischen und militärischen Ereignisse überschlagen sich:
28.5. Belgien kapituliert
14.6. Deutscher Einmarsch in Paris
22.6. Waffenstillstand

Die Kinder in Seyre bekommen davon nichts mit.

Wie wird es weiter gehen? Haben die Kinder eine Zukunft im "freien" Frankreich?
Bleiben Sie dran!

Inge Joseph #5: In Seyre

 


Enttäuschung
Warum ausgerechnet Seyre im tiefen Süden? Das weiß niemand. Wahrscheinlich war es eine Notlösung, als der Zug in Toulouse stecken blieb und nicht weiterfahren konnte. Die Gemeinde war auf den Ansturm von 100 neuen Bürgern nicht vorbereitet. Der Bürgermeister konnte nur ein Gebäude als Notunterkunft anbieten. Mehr hatte er nicht.
Aber alles war besser, als den Eroberern in die Hände zu fallen.

Die Lebensbedingungen im »Schloss« von Seyre, eigentlich eine Scheune, die dem Bürgermeister der Gemeinde gehört, sind äußerst beengt. Es gibt nur zwei Räume auf zwei Etagen, keine Küche (es gibt auch nicht viel zu essen), kein Wasser, keine Heizung, die Toiletten sind im Hof. 

Inges Freundin Edith Goldapper ist von ihrem neuen Zuhause in Seyre nicht weniger überrascht als Inge:
In einem Schloß würden wir untergebracht werden, sagt man uns. [...] Aber wie groß ist nun die Enttäuschung, da wir ein altes zerfallenes Haus erblicken. Das Schloß allerdings ist 10 Minuten weiter, aber nicht für uns bestimmt. Wir betreten das Haus: kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett. Eine richtige Wüste. Unsere Sachen legen wir in eine Ecke, und dann versuchen wir bei dem Bauern von gegenüber etwas Holz zu bekommen. Bald haben unsere Jungens einige Tische und Bänke gezimmert, und wir können das Abendbrot einnehmen, das uns die Bauern bringen. In verschiedenen anderen Zimmern legt man Stroh hinein. Dort werden wir dann schlafen. So bleiben wir ungefähr 3 Wochen. Dann bekommen wir Bretter und die Jungens stellen Betten her. Es ist alles sehr primitiv, aber wir sind ungeheuer glücklich.
Quelle: Edith Goldapper berichtet über ihre Flucht aus Belgien nach Frankreich im Mai und Juni 1940. Handschriftl.Tagebuch, Einträge vom 10.5.1940 bis Mitte Juni 1940 (Auch als Audio)

Gruppenbild der Mädchen der "Moyennes" (mittlere Gruppe) im Kinderheim in Seyre.
Erste Reihe (von links nach rechts): Eva Kantor, Unbekannt, Martha Storosum und Unbekannt. Zweite Reihe: Unbekannt, Trude Dessauer, Betty Schütz, Fanny Kuhlberg, Lore Flanter und Unbekannt. Hintere Reihe: Ruth Schütz, Rita Kuhlberg, Gerti Lind und Frieda Rosenfeld.

Ärger
Inge und andere Mädchen sind sehr unzufrieden mit dem belgischen Aufseher Gaspard Dewaay (manchmal auch: Dewey oder deWaay), der sich zur „most terrible scourge“ (schlimmsten Plage) entwickelt. Inge spricht manchmal sogar vom Terror, der von dem ehemaligen Straßenbahnschaffner und Leiter des Kinderheims „Herbert Speyer“ in Anderlecht ausgeht. Der Gebrauch der deutschen Sprache ist strikt verboten. Weil der jüngeren Schwester von Ruth Schütz beim Essen versehentlich ein deutsches „Was?“ herausrutscht, wird sie zu einer Woche bei Wasser und Brot „verurteilt“ - die sie allein auf dem Dachboden des Bauernhauses verbringen muss (S.71).

Noch schlimmer geht Gaspar mit den ungezogenen Jungen um. Er verprügelt sie mit einem Stock. Nach einem schweren Zwischenfall mit Gaspar und einem der Jungen verlässt der Aufseher mit seiner Frau im Oktober 1940 das Lager und kehrt nach Belgien zurück, zusammen mit vielen Vorräten, deren Herkunft und Zukunft ungeklärt bleibt, wie Inge schreibt (S.73).

Eine Gemeinschaft entsteht
Nach wenigen Wochen kommt Alexander Frank ins Haus. Alle kennen ihn vom Brüsseler Heim. Inge schreibt euphorisch:
Wenn die Armee jemals einen Mann aus jemandem gemacht hat, dann war er es jetzt. Von nun an sollte es Disziplin, Ordnung und Sauberkeit geben, aber mit einem menschlichen Gesicht. (S.74)
Er teilt die Kinder in Altersgruppen ein und organisiert die Gruppen so, dass die Älteren den Jüngeren zur Seite stehen, zum Beispiel beim selbst gestalteten Unterricht - wie in einer Schule. 
Abgesehen von der Politik war er bestrebt, uns mehr Verantwortung zu übertragen.
Er vertraute darauf, dass wir jeder Herausforderung gewachsen sein würden. Er knüpfte Beziehungen zu den Landwirten der Region und appellierte an ihren Sinn für Nächstenliebe, um ihnen dringend benötigte Lebensmittel und Vorräte zu einem vernünftigen Preis zu entlocken. Seine agronomische Ausbildung muss ihm dabei geholfen haben. Es gelang ihm, einen ständigen Vorrat an Maismehl und zeitweise auch an Milch, Eiern und Butter zu erhalten.
Er hatte Freude daran, gemeinsame Aktivitäten jeglicher Art zu fördern. Zu den denkwürdigen Aktivitäten gehörten die speziellen [Schwefel-] Bäder, die wir zur Linderung unserer Hautwunden nahmen. (S.75)
So ist unter der Leitung von Alexander Frank eine Art Kinderrepublik entstanden.

Die hygienischen Verhältnisse sind jedoch nach wie vor prekär. Im heißen südfranzösischen Sommer gibt es für die Älteren mehr Wein als Wasser zu trinken, da das Wasser erst abgekocht werden muss und es an Holz mangelt. Inge erwähnt Mademoiselle Lea und Monsieur Léon, beide Belgier, die aber am Ende des Sommers mit anderen nichtjüdischen Kindern das Haus in Seyre ohne ein Wort des Abschieds verlassen. Zurück bleiben die beiden Franks, die Köchin Glora Schlesinger mit ihrem Mann Ernst und Elias Haskelevich. Auch sie arbeiteten bereits in Brüssel mit.

Neue Enttäuschungen
Überraschend erhält Inge im Spätsommer Besuch von ihrer Cousine Hilde Loeb (Tocher der Schwester von Inges Mutter) aus Darmstadt. Sie ist mit Walter Lieberg auf der Durchreise nach Lyon, von wo aus sie in die USA ausreisen wollen. Inge wird nicht mitgenommen. Sie sucht nach einer Erklärung:
Hilde muss gute Gründe dafür gehabt haben, dass ich sie nicht begleitete, denn ich weiß, dass sie versucht hätte zu helfen, wenn sie gekonnt hätte. Ich glaube auch, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon so entmutigt war, was die Möglichkeit der Auswanderung anging, dass ich die Ablehnung nicht mehr so persönlich nahm wie damals, als Papa mich abwies. Hilde sagte, sie würde versuchen, Mutti über meinen Aufenthaltsort zu informieren. Sie versprach auch, Mutti nicht zu erzählen, wie schrecklich unsere Lebensbedingungen waren. (S.81)
Ihre Hoffnung, ebenfalls ausreisen zu können, schwindet immer mehr. Verzweifelt schreibt sie am 11.8.1940  in ihrem Brief an Lilo:
Könntest Du irgendetwas für meine Einwanderung tun? Es ist furchtbar schwierig, von hier aus ein Visum für Portugal zu bekommen. Dann bräuchte ich ein amerikanisches Visum, um mit dem Schiff zu euch zu kommen. Ich habe fast gar keine Hoffnung mehr, zu euch zu kommen. Hast du irgendwelche Nachrichten von Mutti und Papa? (S.81)
Laut Friedländer, Die Kinder von La Hille, S.39 befinden sich zu dieser Zeit 93 Kinder und 6 Angestellte in Seyre: die beiden Franks mit Irene Frank, der Mutter von Alexander, Elias Haskelevich und Irma Seelenfreund, die zwar zu den Jugendlichen zählt, aber immer in der Küche hilft.
Ingeborg Joseph: Linke Spalte, 5. Eintrag unten (19.9.1925)

Träume
Der Sommer liefert viele Früchte (Brombeeren, Feigen, Kastanien), um die karge Kost zu ergänzen. Die Bauern müssen immer mehr in den besetzten Norden Frankreichs liefern, so dass für die Flüchtlingskinder kaum etwas übrig bleibt. Manchmal gibt es nur eine Gemüsesuppe mit Brot als Hauptmahlzeit.
Aber die Frage, die uns alle beschäftigte, betraf nicht unsere Herbstdiät. Was würden wir essen, wenn die Disteln und Kastanien verschwunden waren? (S.87)

First row (left to right): Gerhard Eckmann, Guy Haas, Paul Schlesinger, Peter Bergmann, and Siegfried Findling. Back row: Edith Goldapper, Lotte Nussbaum, Inge Joseph, Ruth Klonover and Adele Hochberger.

Inge und ihre Freundinnen Ruth Schütz und Dela Hochberger haben bei allen Gesprächen immer wieder ein Hauptthema: das Essen und die Erinnerungen an einst gutes Essen.
Was würde ich dafür geben, das Huhn zu riechen, das zum Schabbatessen im Ofen brät, träumte Ruth. Und der Nudelpudding war so reichhaltig. Manchmal machte meine Großmutter zum Tee eine Linzer Torte. Ich kann immer noch die Himbeermarmelade schmecken.
Auch ich konnte mir die beschriebenen Speisen vorstellen und fast schmecken. Und weil wir so oft hungrig waren, machten mich die Beschreibungen fast verrückt. Aber ich habe nie gesagt, dass sie aufhören sollen, und manchmal habe ich meine eigenen Beschreibungen von saftigen Braten und meinem Lieblingsessen beigesteuert: Jägerfrühstück, eine Art Omelett aus Rührei und Wurst. (S.91)

Auch im Herbst 1940 geht das Leben in der Isolation weiter. Inge schreibt in ihrem Buch:
Keiner von uns hatte Kontakt zu seinen Eltern, egal ob sie in Deutschland, Belgien, England oder Nordfrankreich lebten, denn die Post war zensiert und extrem langsam oder gar nicht vorhanden, wenn man die genaue Adresse seiner Familie nicht kannte. Unsere Familien waren oft unterwegs, entweder versuchten sie, den Deutschen einen Schritt voraus zu sein, oder sie wurden von den Deutschen von Ghetto zu Ghetto oder in ein Konzentrationslager getrieben. Das letzte, was ich von Mutti hörte, war, dass die Darmstädter Juden kurz vor unserer Abreise aus Brüssel aus ihren Häusern vertrieben und gezwungen wurden, in immer kleineren Vierteln zu leben. Die winzige Wohnung, die Mutti und ich teilten, beherbergte nun Mutti und vier ihrer Verwandten. Wahrscheinlich würden noch mehr Menschen in die beengten Räume einziehen, es sei denn, das Viertel würde für Juden gesperrt werden. (S.88)
Tatsächlich zieht ihre Mutter kurz danach zu ihren Großeltern und Geschwistern am Darmstädter Ludwigsplatz 9.

Ludwigsplatz 9 Darmstadt, links das Elternhaus von Klara Joseph

Im Oktober erhält Inge einen Brief von Lilo, datiert Darmstadt, 26. August 1940, den ihr Mutti geschickt hat und in dem die Mutter der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass Lilo ihre Schwester Inge nach Amerika bringen kann. Die Mutter hatte durch Lilo von Inges Schicksal erfahren. Im Brief werden auch finanzielle Probleme angesprochen: Von Gustav gibt es kein Geld mehr (bisher 200 RM monatlich). Die Mutter weiß nun nicht mehr, wie sie die Ausreise finanzieren soll.

Hoffnung
Ab 1941 gibt es keine finanzielle Unterstützung mehr für die „belgisch-jüdischen“ Flüchtlinge durch die französische Regierung. Ende des Jahres gelingt es Alexander Frank jedoch, das Schweizerische Rote Kreuz für das Heim zu gewinnen und es unter Schweizer Schutz zu stellen.

Die Situation der Kinder verbessert sich dadurch dramatisch, denn der Leiter der Schweizer Organisation, Maurice Dubois, und Alexander Frank verstehen sich blendend.
Der Kontrast zwischen Maurice und Alex hätte nicht größer sein können. Der elegante Mann aus der Stadt war nicht zu verwechseln mit Alex, dem zerzausten Flüchtling mit den leeren Augen. Was auch immer zwischen Maurice und Alex vereinbart wurde, es führte zu sofortigen, greifbaren Ergebnissen. Was für eine willkommene Abwechslung, plötzlich pulverisierte Eier und riesige Käselaibe aus der Schweiz zu haben. Und das war nur der Anfang. Eines Tages, Ende November, tauchten mehrere Holzkisten auf. Die verschiedenen gebrauchten Jacken und Mäntel, die die Kisten füllten, kamen gerade noch rechtzeitig für den Winter. Die Jungen hatten Brüssel im Gegensatz zu den Mädchen buchstäblich nur mit dem Hemd auf dem Rücken verlassen. Aber wir alle brauchten mehr Kleidung.
Obwohl die Lebensmittel und die Kleidung willkommen waren, war unser Leben noch lange nicht luxuriös. Wir waren nicht mehr so oft hungrig wie im Herbst, aber wir aßen auch nicht mehr jeden Morgen Eier und zum Abendessen Fleischbraten. Maismehl war nach wie vor unser Grundnahrungsmittel, aber jetzt hatte Frau Schlesinger mehr Möglichkeiten, es zu veredeln.(S.92)
Weihnachten feiern?
Im Dezember gibt es eine Kontroverse unter den Jugendlichen, ob man als Jude ein christliches Fest wie Weihnachten feiern darf, auch wenn die Schweizer Mitarbeiter Geschenke vorbereitet haben. Die Meinung, es sei ein bürgerliches Fest und man dürfe die Schweizer nicht vor den Kopf stoßen, setzt sich durch. Doch Zweifel bleiben - auch bei Inge.
Wir haben nie offiziell abgestimmt, aber der Konsens war klar: Wir würden die Feier des Schweizerischen Roten Kreuzes begrüßen. Trotzdem muss ich zugeben, dass mir die Entscheidung unangenehm war. Es war, als ob wir unsere Seelen verkauft hätten, oder zumindest einen Teil unserer Seelen. Es war nicht ganz faustisch, aber die Geschichte von Fausts Pakt mit dem Teufel kam mir in den Sinn. Noch heute schäme ich mich, weil mir klar ist, dass unsere Entscheidung an jenem Dezembertag im Jahr 1940 der erste Schritt auf dem Weg zur Abkehr von unserem religiösen Glauben war, nicht nur für uns als Gruppe, sondern auch für mich persönlich. War unser religiöser Glaube nicht der Grund, warum wir überhaupt verurteilt worden waren? Und wäre das Festhalten an ihm nicht ein Weg, die Tyrannen zu bekämpfen? (S.94)
Die Kinder besorgen einen Weihnachtsbaum und schmücken ihn. Zu Weihnachten gibt es viele Geschenke von den Schweizern, aber auch einen deutlichen Hinweis von Dubois auf den christlichen Charakter des Festes und die große Persönlichkeit Jesu Christi. Doch die Kinder interessieren sich mehr für das Essen als für die christliche Lehre. Es gibt Blutwurst, Kartoffelbrei mit Apfelmus, Kuchen zum Nachtisch und die Kinder essen, als gäbe es in den nächsten vier Wochen nichts mehr zu essen, schreibt Inge in ihren Aufzeichnungen.

Der Winter wird sehr kalt, es gibt nur ein geheiztes Zimmer und alle frieren Tag und Nacht. Inge und die anderen Mädchen leiden unter einer schweren Erkältung mit Fieberschüben und Halluzinationen.

Trotzdem blicken alle voller Hoffnung auf das neue Jahr. Mit den Schweizern wird alles besser, so die einhellige Meinung. Dass der von der deutschen Regierung gesteuerte und von der französischen Vichy-Regierung unterstützte antisemitische Terror erst noch kommen würde, konnte man nicht ahnen.

Doch was würde das für die Kinder in Seyre bedeuten?