17 Juli, 2023

Inge Joseph #10: Warten

 Pläne

Zurück im Schloss, nach dem zutiefst verstörenden Eindruck aus dem Lager Le Vernet, ist das Leben nicht mehr das alte: Inge fühlt sich einsam und alle Insassen und Betreuer im Schloss fürchten, dass es eine Wiederholung geben könnte. Die Unsicherheit steigt, als eine Nachricht bekannt wird:
Zwei Tage später erfuhren wir alle, wie viel Glück wir hatten. Hans Garfunkel hörte eine BBC-Sendung mit »unbestätigten Berichten«, dass Deportierte in einem Güterzug aus Südfrankreich getötet worden waren - es war nicht klar, wie -, noch bevor sie das vorgesehene Konzentrationslager erreichten. (S.171)

 
Rösli Näf (rechts) https://collections.ushmm.org/iiif-b/assets/1115758 

Die Beschwerden über Rösli nehmen ab.
Aus Gründen, die nur Rösli kennt, wählt sie Ilse Brunell als Spionin für Château la Hille aus. Rösli vermittelte Ilse eine Anstellung als Sachbearbeiterin in einer Behörde in Foix, wo sie für eine Frau arbeitete, die Deportationslisten erstellte und in deren Haus wohnte. Während der Woche wohnte Ilse im Haus dieser Frau in Foix, und alle paar Wochenenden kehrte sie nach la Hille zurück. Wenn sie etwas über mögliche Razzien oder Arrests erfuhr, alarmierte sie Rösli. „Du bist unsere Sicherheit gegen die Deportation.“ sagte Rösli zu ihr. (S.172)
Ilse fühlt sich unter Druck gesetzt, verantwortlich für die Insassen von La Hille zu sein.
Inges Verhältnis zu Walter leidet ebenfalls unter der Situation, denn Walter denkt nur noch an Möglichkeiten zur Flucht und ist völlig besessen davon.

Zwiebeln
Inge berichtet, dass sie eines Tages, unter Anleitung von Eugene Lyrer, mit dem Bau eines geheimen Verstecks im einstigen Zwiebelkeller begannen. Sie verkleideten einen Zugang zum Keller mit den üblichen Holzpaneelen des Raumes und schufen einen ca. 60 cm hohen Geheimzugang am Boden. Von außen war nicht mehr zu erkennen, dass an dieser Stelle einst eine Tür war.
Der Zwiebelkeller wurde unser neues Versteck. Wir benutzten diesen Raum nun als unser Schlafquartier, die Mädchen auf der einen Seite und die Jungen auf der anderen. Sollte tagsüber die Polizei kommen, hieß es nach zweimaligem Klingeln, dass wir uns im Zwiebelkeller verstecken sollten.
Um den Keller zu betreten und zu verlassen, mussten wir uns auf den Bauch legen und durch die kleine Öffnung gleiten. Sobald wir drinnen waren, verschloss Herr Lyrer die Öffnung von außen. Wir konnten den Keller erst verlassen, wenn wir morgens ein bestimmtes Klopfzeichen hörten. (S.173)
Zuerst schien das Schlafen im Keller ein Abenteuer zu sein, das änderte sich, als Mäuse zu Besuch kamen und der Zwiebelgeruch sich in den Kleidern festsetzte.

Entsetzen


Immer mehr Bewohner erhalten Nachrichten, dass Eltern und Geschwister nach Polen deportiert wurden. So eines Tages in diesem November des Jahres 1942 auch Walter. Beide sind bestürzt. 
An diesem Tag geht sie mit ihm spazieren und sie beobachten aus nächster Nähe ein  Schauspiel, das alles verändern wird.
Aber unser Tag der Traurigkeit war noch nicht zu Ende. Als wir weitergingen, hörten wir das Rumpeln von Lastwagen auf der Landstraße, die in der Nähe des Schlosses verlief. Es handelte sich nicht um einen der gelegentlich vorbeifahrenden Lastwagen, sondern um einen Konvoi von Fahrzeugen der deutschen Armee. Es müssen zwölf bis zwanzig Truppentransporter, Jeeps, Panzer und Pritschenwagen mit Artillerie auf dem Dach gewesen sein. Was mein Herz zum Stillstand brachte, war nicht die enorme Größe der Waffen oder der Anblick der Soldaten in Helmen und Kampfanzügen, sondern die kleinen rot-schwarzen Nazifahnen, die an einigen der Lastwagen flatterten. Ich hatte die Nazi-Flaggen nicht mehr gesehen, seit ich Deutschland vor fast vier Jahren verlassen hatte, und ihre grellen Farben und das Hakenkreuz erinnerten mich unmissverständlich daran, dass die Nazis in voller Stärke präsent waren. Der Konvoi zögerte nicht einmal, als er an der Abzweigung nach La Hille vorbeifuhr. Die Soldaten suchten also nicht nach uns, aber die Botschaft war klar: Die Deutschen besetzten Südfrankreich und würden unsere neuen Nachbarn sein. (S.175)

Der Hintergrund: Am 8. November 1942 landeten alliierte Truppen an der Küste Nordafrikas, am 11.November erfolgte der prompte Einmarsch deutscher Truppen in die freie Südzone Frankreichs.
Es wird ernst!

Bedrückendes
Auch aus Deutschland kommen bedrückende Nachrichten für Inge. Sie schreibt:
Anfang Dezember [1942, R.W.] erhielt ich einen kryptischen Brief mit fünfundzwanzig Wörtern von Mutti aus dem Konzentrationslager Piaski in Polen, der über das Rote Kreuz weitergeleitet wurde. Darin bat sie mich, Papa zu benachrichtigen, dass er ihr Lebensmittel und Kleidung schickt. Ich leitete die Nachricht an Papa in den Vereinigten Staaten weiter.
Die Tatsache, dass so viele meiner Freunde die gleiche Erfahrung gemacht haben, machte es für mich nicht leichter. Alles, woran ich denken konnte, war, dass Mutti meine Erfahrung vor ein paar Monaten gemacht hatte - sie wartete in der Nähe eines Zuggleises darauf, dass ihr Name aufgerufen wurde, und starrte in die dunkle Leere eines Waggons.
Erschwerend kam hinzu, dass sie nach dem Inhalt ihrer Nachricht anscheinend allein unterwegs war, getrennt von ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester. Und der Winter war im Anmarsch. Sie hatte nur eine Decke, wenn sie Glück hatte. Sie schlief in einer baufälligen, zugigen Baracke auf einer harten Holzplattform. Warmes, braunes Wasser zum Frühstück. Wässrige Suppe zum Mittag- und Abendessen, wenn es überhaupt Mittagessen und Abendessen gab. Und im Gegensatz zu mir hatte sie kein Schweizerisches Rotes Kreuz, das sich für sie einsetzte. 
(S.176)
Dieser Rotes-Kreuz-Brief war die letzte Nachricht von Mutti! Was danach geschah, ist unbekannt. Inge hat nie wieder etwas von ihrer Mutter oder etwas über sie gehört.
(Der Brief ist leider nicht online vorhanden.) 

Instruktion
Ein erster Exodus der Großen (Sebastian Steiger, Die Kinder von Schloß La Hille, S. 360), bestehend aus drei Jugendlichen und dem ehemaligen Leiter der Kolonie, Alexander Frank, über die Pyrenäen nach Spanien findet Ende Dezember statt. Die Flucht gelingt. Eine Woche vor Weihnachten beruft Rösli ein Treffen mit den älteren Bewohnern des Schlosses ein, die in Le Vernet waren, und berichtet von der Möglichkeit, eventuell über ein anderes Schweizer Heim, in der Nähe von Annemasse in die Schweiz zu fliehen:
„Wie Sie alle wissen, ist die Sicherheitslage immer schwieriger geworden“, sagt Rösli bei unserem ersten Treffen in ihrem spartanischen Büro. „Ich habe festgestellt, dass das Schweizerische Rote Kreuz Ihnen keinen ausreichenden Schutz mehr bieten kann, so dass Ihre Sicherheit hier in Gefahr ist. Für diejenigen von Ihnen, die bereit sind, das Risiko einzugehen, halte ich eine Flucht für möglich. Ich habe einige Vereinbarungen mit anderen getroffen, die bereit sind, auf dem Weg zu helfen. Ihr müsst jedoch wissen, dass jeder Fluchtversuch sehr riskant ist. Wenn Sie erwischt werden, könnten Sie getötet werden. Sie müssen auch wissen, dass ich die Sache persönlich in die Hand genommen habe und dass das Schweizerische Rote Kreuz nichts davon weiß. Wenn also jemand kein Interesse daran hat, dies zu tun, dann sagen Sie es mir bitte jetzt oder unter vier Augen nach diesem Treffen.“
Der Raum war völlig still. 
(S.177)
Rösli instruiert die in Frage kommenden Jugendlichen, wie sie sich bei Verhaftung durch die französische Polizei zu verhalten haben:
„Jeder von euch bekommt einen französisch-schweizerischen Namen. Ihr werdet sagen, dass ihr aus der Gegend von Genf in der Schweiz kommt, dass ihr in den Ferien im Wald spazieren gegangen seid und euch verlaufen habt. Ihr habt vergessen, euren Personalausweis mitzunehmen, denn in der Schweiz muss man ihn nicht immer dabei haben, und ihr wusstet nicht, wie wichtig er in Frankreich ist. - Ihr müsst so tun, als ob ihr kein Deutsch versteht und nur auf französische Fragen antworten könnt.“ (S.178)

Außerdem bekommt jede Gruppe einen Betrag von 2000 Francs und eine Landkarte mit auf den Weg. 
Bild aus: Vera Friedländer, Die Kinder von La Hille, S.124

Alle drei Tage soll sich eine Gruppe von vier bis fünf Jugendlichen im Morgengrauen auf den Weg machen. Mit dem Zug soll es von Toulouse über Lyon nach Annemasse gehen, wo mit Hilfe eingeweihter französischer Widerstandskämpfer und einer Angehörigen des Schweizerischen Roten Kreuzes (Renée Farny) die nahe Grenze zur Schweiz illegal überquert werden soll. 

Die Ungewissheit der Zurückgebliebenen über die Chancen einer erfolgreichen Flucht weicht der Zuversicht, als die Nachricht eintrifft, dass die erste Gruppe, bestehend aus zwei Mädchen und zwei Jungen, die Schweiz sicher erreicht hat. Auch einer zweiten Gruppe von vier Mädchen und einem Jungen gelingt die Flucht in die Schweiz. Zur dritten Gruppe, die sich um die Jahreswende 1942/43 auf den Weg in die Schweiz macht, wird Inge Joseph gehören. 

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