Inge Joseph als Romanfigur

 Bei meinen Recherchen zur Lebensgeschichte von Inge Joseph bin ich auf ein weiteres Buch gestoßen, das sich mit den jüdischen Kindern von Schloss La Hille beschäftigt.

Es stammt ebenfalls von einer Schweizer Autorin. (Sie erinnern sich vielleicht: Den Anstoß zu meinen Recherchen gab ein Satz aus dem Buch von Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff. Die gefährliche Mission von Varian Fry, der sich auf Inge Joseph aus Darmstadt bezieht). 


Das gefundene Buch ist Franziska Greising: Am Leben und behandelt in romanhafter Weise die Geschichte der Kinder von La Hille bis Anfang 1943, vor allem die Geschichte von Inge Joseph. 

Ich finde es generell legitim und prinzipiell sinnvoll, Zeitgeschichte in romanhafter Form darzustellen, weil viele, vor allem jüngere Menschen vielleicht nur so einen Zugang zur Zeitgeschichte finden. Und im Falle der ‘Aufarbeitung der jüngeren Geschichte des Antisemitismus” halte ich das sogar für notwendig und förderungswürdig. In diesem Sinne ist sowohl Franziska Geising als auch Eveline Hasler ein spannender und emotional mitfühlender Roman gelungen. 

Dennoch habe ich in meiner Rezension des Romans von Eveline Hasler einige Vorbehalte geäußert, und diese Vorbehalte habe ich in noch größerem Maße gegenüber dem Setting von Franziska Geising.

Das fängt schon damit an, dass sie die Namen der handelnden Personen in nicht nachvollziehbarer Weise einmal originalgetreu wiedergibt und in anderen Fällen verschleiert. So wird Inge Joseph mit ihrem richtigen Namen genannt, während ihr Freund im Exil, Walter Strauss, den Namen “Chaim” erhält. Eine Begründung fehlt. Ähnlich verhält es sich mit anderen Akteuren.
 
Geradezu verstörend finde ich die Umbenennung von Rösli Näf in Rose Näf. Schon Eveline Hasler hat eine eigenwillige Umbenennung in Rösy Näf vorgenommen, und dieses Vorbild hat wohl Frau Greising bewogen, ihrer Vorgängerin zu folgen.
Im Unterschied dazu begründet sie aber die Umbenennung im Epilog des Buches. Ich gebe die Stelle ungekürzt wieder:

Sie trifft sich mit einem Neffen von Rösli Näf, genannt “J." und befragt ihn.
Darauf will ich wissen, was J. davon hält, wenn ich meine Figur im Roman Rose nennen würde, statt Rösli, wie sie sich nannte, und wie sie alle Dokumente unterschrieb.
Er meint, sie habe halt tatsächlich Rösli geheißen. Ihr nachträglich einen andern Namen anzuhängen, das scheine ihm doch etwas fremd. Ich verstehe deine Einwände, gebe ich zu, lange Zeit hatte ich dasselbe gedacht. Und aus Respekt den Namen nicht angetastet. Doch es wollte mir je länger, je weniger gelingen. Der Name Rösli wurde der Frau, die mir aus den spärlichen Dokumenten, den Interviews und den paar Fotos entgegenkam, nicht länger gerecht. Es war wenig, was ich von ihr in Erfahrung bringen konnte, doch als ich anfing, dieses karge Material mit den Zeitumständen, der Umgebung, den Anforderungen, die an sie gestellt wurden, und schließlich mit den Tagebüchern und Erzählungen all derer abzu- gleichen, die von La Hille berichtet haben, legte sie den Diminutiv ab (der zu einem Teil ihrer Bescheidenheit zugeschrieben werden könnte) und wurde mehr und mehr zu Rose. Und mehr und mehr war ich überzeugt, sie hätte eingewilligt in den erneuerten Namen. Mir kam dabei auch Goethe in den Sinn, und ich dachte: Ein Röslein lässt sich brechen, mit einer Rose geht das nicht so leicht. 
J. antwortet: Du bist die Autorin. Das respektiere ich. 
(S.496)
Für mich ist das eine unangemessene Selbstermächtigung, die in keiner Weise überzeugt. Schon die Sprache ist verräterisch: legte sie den Diminutiv ab. Nein, nicht Frau Näf hat diese Wendung vollzogen, sondern die Autorin. Was von der Autorin gewollt war, wird von ihr als quasi naturgegeben verschleiert. Höhepunkt der Anmaßung ist es dann, der toten Rösli Näf ein mögliches Einverständnis zu unterstellen. 
Der Neffe hat ihr auch keineswegs einen Freibrief ausgestellt, sondern nur auf ihre Rolle als Autorin hingewiesen. Ihrer Rechtfertigung der Namensänderung mit dem Hinweis auf Goethes Gedicht könnte auch damit widersprochen werden, dass sich die Eltern von Rösli Näf bei der Namensgebung möglicherweise gerade von diesem Gedicht haben leiten lassen, so dass eine nachträgliche, eigenmächtige Änderung durch die Autorin in höchstem Maße übergriffig ist.

Es gibt einen weiteren Einwand gegen die Arbeitsweise der Autorin, den ich für noch schwerwiegender halte: Man bekommt beim Lesen den Eindruck, dass das Buch ist in weiten Teilen eine schamlose Übernahme der Vorlage von David. E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi Europe ist.
Schamlos in meinen Augen deshalb, weil sie im Literaturverzeichnis unter der Überschrift "Literatur, die mich begleitet hat" die eigentliche Quelle mehr versteckt als offen legt. Offensichtlich vertraut die Autorin darauf, dass das englischsprachige Original im deutschen Sprachraum zu wenig bekannt ist, als dass ihre Paraphrase des Originals erkannt würde. Viele Passagen werden fast wörtlich (in Übersetzung) übernommen, ohne dass dies kenntlich gemacht wird. Dazwischen gibt es immer wieder erfundene Dialoge, die Farbe in den Roman bringen sollen, vor allem was die Liebesbeziehung zwischen Inge und Walter betrifft. Realität und Phantasie vermischen sich, werden aber nicht offengelegt. 

Freizügige Übernahmen von Texten anderer Autoren und eigenwillige Namensänderungen finden sich auch bei Eveline Hasler. Ist das nun ein neues,  spezifisches Stilmerkmal Schweizer Autorinnen?

Franziska Greising: Am Leben. Verlag Zytglogge; New Edition, Basel 2016.

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