Alle Kinder im Schloss, die bald 18 Jahre alt werden, haben jetzt Angst, ausgeliefert zu werden. Das SRK wird sie wohl nicht schützen können. Hinzu kommt die Ungewissheit, was mit den Angehörigen in Deutschland geschehen wird. Inge weiß zwar, dass ihre Mutter im polnischen Piaski unter schwierigsten Bedingungen lebt, mehr aber nicht. Auch dass ihre Tante Martha Loeb dort ist und die geliebte Oma Josefine im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, bleibt ihr verborgen.
Es muss ein Weg aus der verzweifelten Lage gefunden werden. Und das kann nur heißen: Flucht.
Inge Helft, Adele "Dela" Hochberger, Manfred Vos
Quelle: Friedländer, S.150. Die Fotos stammen aus dem Nachlass von Alexander Frank, dem Leiter des Heims in Brüssel und späteren Leiter und Lehrer in Seyre (siehe Inge Joseph #3). Sie wurden im Sommer 1940 in Seyre aufgenommen.
Inge berichtet, dass sie am frühen Morgen, 2 Uhr des 5. Januar 1943 zusammen mit Walter Strauss, Manfred Vos, Dela Hochberger und Inge Helft von Rösli geweckt und auf den Weg in die Schweiz geschickt werden (S.178).
Vermutlich irrt sich Inge in ihrer Erinnerung oder es handelt sich um einen Übertragungsfehler des Manuskripts. Laut Tagebuch von Walter Moser (s.u.), ebenfalls Bewohner von Schloss La Hille, beginnt die Flucht in den frühen Morgenstunden des 31.Dezembers. Das schreiben auch Anne-Marie Imhof-Piguet und Sebastian Steiger - beide waren zu dieser Zeit allerdings noch nicht in La Hille und berichten daher aus zweiter Hand.
Aus dem Tagebuch von Kurt Moser
Inge schreibt:
Jeder von uns erhielt ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen mit Gelee-Sandwiches und Trockenfrüchten sowie die folgenden Anweisungen: Wir sollten innerhalb einer Stunde zu Fuß zu einem Bahnhof in Foix aufbrechen, um den 6-Uhr-Zug nach Toulouse zu nehmen. Auf keinen Fall sollten wir vom Bahnhof von Pailhès, der nur halb so weit von Foix entfernt war, abfahren, da uns dort zu viele Leute kannten. Wir sollten im Bahnhof von Toulouse auf den Zug nach Annemasse warten, der um 17.00 Uhr abfuhr. Um 15.00 Uhr sollte ein Mitarbeiter des Schweizerischen Roten Kreuzes in Toulouse, der uns kannte, Walter fünf Fahrkarten nach Annemasse aushändigen. Von Annemasse aus sollten wir zu Fuß zu einem Heim des Schweizerischen Roten Kreuzes gehen. Dort würden wir weitere Anweisungen erhalten. (S.178f)
Gegen 3.30 Uhr verlassen sie das Schloss und machen sich zu Fuß auf den langen, vereisten Weg nach Foix. Walter Strauss gibt an, mit Frau Näf vereinbart zu haben, dass Inge mit ihm gehen könne. Auch Ruth Schütz, die Freundin von Inge, sollte mitkommen, aber sie fühlte sich krank. Walter traut den anderen nicht viel zu.
Inge ist irritiert über die Entscheidung von Rösli Näf:
Sie hatte zwei ihrer verantwortungsvollsten Teenager - Walter und mich - ausgewählt und uns mit drei der schwächeren zusammengetan, damit wir sie begleiten konnten. Aber war das fair gegenüber Walter und mir? Diese Frage durften wir nie stellen. Und ich sollte erst später erfahren, was für ein schrecklicher Bärendienst uns erwiesen worden war. (S.180)
Reisebegleiter
Um 6 Uhr geht es in einem überfüllten Zug von Foix nach Toulouse, wo sie um 10 Uhr ankommen. Von dort geht es am Nachmittag um 16.30 Uhr mit dem Zug weiter nach Annemasse, in der Nähe des Genfer Sees und direkt an der Schweizer Grenze.
Die Stunden im Wartesaal scheinen nicht zu vergehen.
Endlich im Zug nach Annemasse, halten sie abwechselnd nach deutschen Kontrolleuren Ausschau. Sie haben Reisepapiere, aber keine Ausweise (cartes d'identites). Die Fahrt dauert 17 Stunden (!).
Im Nachbarabteil sitzen deutsche Soldaten, die trinken und immer lauter werden. Der Zug wird immer voller. Ein Soldat kommt dazu und fragt auf Deutsch: "Spielen Sie Schach? Walter lässt sich auf das Spiel ein und kehrt erst nach Mitternacht zu seiner Gruppe zurück. Er hat den Soldaten im ersten Spiel geschlagen und ihn dann zweimal gewinnen lassen, um ihn ruhig zu halten und von der Gruppe abzulenken. In Lyon verlassen die Soldaten den Zug. Der Rest der 10-stündigen Fahrt verläuft ereignislos. Walter lässt die anderen abwechselnd eine halbe Stunde schlafen. Am frühen Morgen kommen sie endlich im französischen Annemasse unweit von Genf an.
Die frische, kalte Luft, die uns begrüßte, als wir an dem kleinen, hölzernen Fahrkartenschalter in Annemasse aus dem Zug stiegen, war ein wunderbarer Kontrast zu der abgestandenen, rauchgeschwängerten Luft im Zugabteil. Zu unserer großen Erleichterung kontrollierten die französischen Soldaten am Bahnhof keine Ausweise. Es war immer noch Neujahr, und vielleicht dachten sie mehr an diesen Tag als an die Sicherheit. Es gab nur eine Straße, die vom Bahnhof wegführte, und so gingen wir sie einfach im Gänsemarsch entlang, wie beim Verlassen des Schlosses. Wir gingen in Richtung des Hauses des Französischen Roten Kreuzes, das Rösli uns zu finden gewiesen hatte. Es war etwa fünfzehn Kilometer entfernt, auf dem Lande, etwa zweieinhalb Stunden Fußmarsch entfernt. (S.183)
Das Heim in Saint-Cergues soll ihre letzte Station vor dem Übertritt in die, wie sie glauben, sichere Schweiz sein.
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