Nach einem nervenaufreibenden Hin und Her zwischen stacheldrahtbewehrten Grenzzäunen und über schneebedeckte Felder erreicht die Gruppe in der Nacht vom 1. Januar endlich ein Haus mit Licht. Alle sind mehr oder weniger erschöpft. Inge will gerade an die Tür klopfen, da ertönt eine Stimme: „Halt!“ Ein Soldat in deutscher Uniform und weitere Soldaten erscheinen. Sie sind umstellt. Das Haus ist der Wachposten einer deutsch-französischen Besatzung auf der französischen Seite der Grenze. Offenbar haben sie sich verlaufen. Ihre Flucht ist hier vorerst zu Ende. Das Schlimmste ist geschehen: Sie sind in der Hand der deutschen Besatzer.
Zwei Mitglieder der Fluchtgruppe Strauss/Joseph. Links: Inge Helft - Rechts: Adele “Dela” Hochberger - Mitte: Lixi Grabkowicz. Lixi Grabkowicz flüchtete einen Tag später mit Ruth Schütz. Es gelang ihnen ebenfalls nicht in die Schweiz zu gelangen, sie konnten aber in Frankreich untertauchen.
Rassenkunde
Ihr Pech war, unmittelbar nach dem Wachwechsel von der französischen Wache zur deutschen Wachmannschaft am Haus angekommen zu sein. Bei der Befragung durch die deutschen Soldaten leugnet Inge in gutem Französisch, eine Deutsche zu sein, während Inge H. wimmert. Walter war angekommen, als die Franzosen noch im Haus waren, und wurde direkt nach Frankreich abgeschoben. Die anderen vier werden zu einem anderen Haus gebracht, dem Gebäude der deutschen Grenzwache. Dort werden sie erst gemeinsam und dann getrennt verhört. Inge vertraut auf ihre Fähigkeiten, ist sich aber unsicher, wie die anderen auf die Befragung reagieren werden. Im Einzelinterview wird sie immer wieder nach dem Herkunftsort, der Familie etc. befragt und muss konzentriert mitarbeiten, um sich immer wieder richtig und auf Französisch zu wiederholen. Den diensthabenden Offizier erkennt sie als einen „Landsmann“ aus der Gegend Mannheim/Ludwigshafen.
„Wissen Sie, Sie sind kein sehr hübsches Mädchen. Mit ihrer großen Nase sehen Sie aus wie ein Jude. Jetzt sag mir die Wahrheit. Wer bist du und wo wolltest du heute Abend hin?“Ich blieb bei meiner Geschichte. Ich war Isabel Genelle und lebte zwischen Genf und Lausanne. Mein Vater, Jean, war Holzfäller und meine Mutter, Claire, kümmerte sich um meine Geschwister und mich. Daraufhin wird sie hinausgeschickt. (S.
Obere Reihe Mitte: Walter Strauss; rechts: Inge Joseph
Nach einer Stunde wird die Gruppe wieder zusammengebracht. Manfred wird hinausgerufen und kurz darauf hören sie Schreie und Schäge gegen eine Wand. Dann werden Dela (=Adele) und Inge H. einzeln in das Büro des Kommandanten gerufen. Etwas später wird auch Inge wieder gerufen.
Identität
DAS DRITTE MAL, als er mich ins Kreuzverhör nahm, lächelte der Kommandant süffisant. „Sie sind also Inge Joseph aus Darmstadt“, sagte er auf Deutsch. „Nicht weit von meiner Heimat entfernt.“ Ich spürte, wie mein Herz wieder einmal heftig schlug. Er sagte nichts und wartete auf meine Reaktion. Ich sagte nichts.
Er nahm einen Zettel in die Hand. „Und Ihre Freunde sind Adele Hochberger aus Berlin, Inge Helft aus Murzen und Manfred Vos aus Köln. Ihr seid Juden und wolltet in die Schweiz fliehen. Sie sind aus Château la Hille in der Nähe der Pyrenäen gekommen. Geholfen hat Ihnen das Schweizerische Rote Kreuz, ein Fräulein Rösli Näf? Das ist eine sehr ernste Angelegenheit, wie Sie sicher wissen.“
Offensichtlich war Manfred zusammengebrochen, und Dela und Inge H. waren ihm gefolgt.Ich antwortete auf Französisch, dass ich nicht wüsste, was er sagte. Er wiederholte die Information auf Französisch. Ich sagte ihm, dass sie falsch sei. Ich sei Isabel Genelle aus der Schweiz. Er wurde wütend und begann zu schreien. „Warum lügen Sie weiter? Ich weiß, warum. Sie lügen, weil Sie ein Jude sind! Das ist es, was Juden tun. Sie lügen!“Ich war erstaunt - nicht so sehr über die Beleidigungen und Beschimpfungen, sondern über seine Hartnäckigkeit. Wenn er die Wahrheit kannte, warum musste er mich dazu bringen, sie zuzugeben? Er war ein erwachsener Mann, ein befehlshabender Offizier, und ich war dieser arme, elende Teenager, ein eingesperrtes Tier. Die ganze Sache schien auf einen persönlichen Kampf zwischen uns beiden hinauszulaufen.
Er war entschlossen, mich einzuschüchtern, damit ich seine Aussagen bestätigte. Aber aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz ergründen kann, etwas Instinktives, vermute ich wieder einmal, dass ich ihm dieses Vergnügen nicht bereiten wolle. Eine seltsame Sturheit hatte mich übermannt, als ob meine geringste Überlebenschance davon abhing, die Fiktion aufrechtzuerhalten, Isabel Genelle zu sein.(S.197f.)
Die Befragung endet mit einer Drohung:
„Also“, sagte er entschlossen und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, „heute Morgen um sieben Uhr werden Sie vor ein Erschießungskommando gestellt.“Ich war überrascht von der Plötzlichkeit und Endgültigkeit der Entscheidung, aber ich war immer noch in Frieden. Ich spürte, dass meine wachsende Ruhe angesichts seines zunehmenden Zorns ihn verwirrte. Er befahl einem Soldaten, mich wegzuführen und mich nicht mit meinen drei Freunden sprechen zu lassen. Ich nahm an, dass sie in einem anderen Teil des Gebäudes wieder zusammen waren. (S.199)
Der Sturz
Ich hatte ein starkes Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen. Ich wollte nicht Deutsch sprechen oder annehmen, dass der Soldat neben mir Französisch sprach, also stand ich einfach auf. Er trat sofort vor. Ich sagte ihm auf Französisch, was ich wollte, und er führte mich einen schmalen Gang entlang zu einer Toilette. Als ich eintrat, reichte er mir eine Kerze. Ich schloss den Raum nicht ab, weil ich irgendwie spürte, dass ein Gefangener kein Recht auf so viel Privatsphäre hatte.Sofort bemerkte ich ein großes Fenster hinter der Toilette. Ich trat auf den Sitz und versuchte, ihn zu öffnen. Es klemmte. Ich zog fester. Mit einem Knurren öffnete es sich. Ich bin mir nicht sicher, wie laut das Geräusch war, aber in der Stille der Nacht und in Anbetracht meiner Situation kam es mir wie ein lauter Knall vor, als ob es zu laut gewesen wäre, um unbemerkt zu bleiben.Zunächst beschloss ich, mich um meine unmittelbaren Angelegenheiten zu kümmern. Dann lauschte ich an der Tür, hörte aber nichts in der Nähe. Also trat ich auf den Toilettensitz, dann auf die Fensterbank, ... und sprang dann.Ich schien zu fallen und zu fallen. Als ich landete und auf die Seite fiel, federte ein Schneebett meinen Fall ab. Wie kam es, dass ich so tief fiel, obwohl ich aus dem ersten Stock gesprungen war? In dem Moment, in dem ich aufstand, merkte ich, dass ich eine weitere Ebene hinuntergefallen war, bis zu den Kellertreppen.Ich rannte die Treppe hinauf, überquerte einen Hof und hatte gerade die Straße überquert, als ich Schreie und Aufruhr hörte. Ich konnte nicht schnell genug rennen, um zu entkommen. Als ich das Heulen der Hunde hörte, fasste ich einen Entschluss. Ich stürzte mich in einen Graben, tief in den Schnee und drückte mich so dicht wie möglich an den Boden. Ich fegte den Schnee über mich und legte mich dann mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Zum ersten Mal in dieser Nacht war der Schnee mein Verbündeter. (S.200)
Obwohl mit Hunden nach ihr gesucht wird, wird sie in ihrem Versteck nicht gefunden. Sie hat Angst, ob sich die Soldaten vielleicht an ihren Freunden rächen? Ihr ist klar, dass sie nicht nach La Hille zurückkehren kann, sie will dafür in das Haus des Schweizer Roten Kreuzes, von dem aus sie über die Grenze gegangen sind. Sie erkennt die Straße wieder und findet auch das Haus. Die Leiterin, Anne Marie, nimmt sie auf und informiert Rösli Näf mit einem Geheimcode über die gescheiterte Flucht und die Verhaftung der drei anderen Jugendlichen. Sie muss aber das Haus sofort verlassen. Anne Marie zeigt ihr den Weg zurück zur Grenze. #
Inge spricht auch im Folgenden immer wieder von dieser „Anne-Marie“. Das könnte durchaus Anne-Marie ImHof-Piguet sein, denn laut Vera Friedländer S.194 kam Frau Piguet im Mai 1943 von Saint-Cergues nach La Hille. Im Buch von Anne-Marie Piguet findet sich aber kein Hinweis dazu! Die Leiterin in St-Cergues ist zum damaligen Zeitpunkt Germaine Hommel; ihre Helferin Renée Farny.
Trial And Error
Inge ist nun auf sich allein gestellt. Ihre drei Begleiter sind in deutscher Haft. Sie weiß nicht, wie es ihnen geht. Und sie weiß auch nicht, was mit Walter passiert ist.
Am nächsten Morgen, Samstag, 2. Januar, verlässt sie um 7 Uhr das Haus in Richtung Grenze, muss aber bald feststellen, dass viele Suchtrupps unterwegs sind und sie keine Chance hat, heute noch in die Schweiz zu kommen. Es ist kalt, sie ist nass und friert. Sie erinnert sich an eine Kinderklinik in Annemasse, deren Leiterin einmal für eine Woche in La Hille war. Sie findet den Weg zur Klinik.
Die Direktorin, eine matronenhafte Frau in den Vierzigern, kommt innerhalb von Sekunden mit einem besorgten und zugleich fragenden Gesichtsausdruck zu ihr.
„Ich bin Inge Joseph. Ich komme aus Château la Hille. Ich habe Sie dort vor einigen Monaten kennengelernt, als Sie zu Besuch waren. Ich brauche eine Unterkunft für ein oder zwei Tage, bevor ich mich wieder auf den Weg mache.“Sie sagte nichts, während sie mich von oben bis unten musterte, aber der Blick in ihren klaren, blauen Augen sagte mir, dass sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie nahm meinen Arm und zog mich ins Haus.„Was ist los?“, fragte sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.Sie hörte mir ruhig zu, als ich ihr noch einmal die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden schilderte. Sie stellte mir ein paar Fragen und führte mich dann in ein kleines Schlafzimmer. Sie sagte mir, ich solle mich hinlegen und ausruhen.Mühsam schälte ich mich aus meinen nassen Kleidern. Mein Wollpullover roch fürchterlich. Die Haut an meinen Armen und Beinen war von der Feuchtigkeit zerknittert. Das Bett war so herrlich sauber und trocken! Ich falle in einen tiefen Schlaf. (S.203)
Am Sonntagmorgen versucht Inge erneut, die Grenze heimlich zu überqueren. Eine Nichte der Direktorin begleitet sie. Wieder scheitert der Versuch, denn die Grenze ist scharf bewacht. Sie kehrt zurück und erfährt von Frau Barrow, einer Mitarbeiterin des Rotkreuzheims in Annemasse, dass sich das Rote Kreuz um ihre drei Begleiter kümmert.
Madame Barrow erzählte mir, sie habe mit Toulouse gesprochen und man habe ihr gesagt, ich solle mit ihr in das Haus des Schweizerischen Roten Kreuzes außerhalb von Annemasse zurückkehren und von dort aus so schnell wie möglich die Grenze überqueren.[...] Dem Roten Kreuz wäre es allerdings lieber, wenn ich mich dabei nicht in der Nähe des deutschen Hauptquartiers aufhielte, denn jeder Hinweis auf eine weitere Komplizenschaft des Schweizerischen Roten Kreuzes würde die Sache sicherlich erschweren.Jetzt hatte ich also neue Hoffnung. Aber die Hoffnung, dass Dela, Inge und Manfred gerettet werden könnten, war nur ein dünner Faden. Ich lungerte in der Babyklinik herum, beobachtete die werdenden Mütter, die zur Untersuchung kamen und wieder gingen, und genoss die Wärme und die trockene Kleidung. Ich fühlte mich wie eine schreckliche Last für meine wunderbaren Gastgeber. (S.204f)
An dieser Stelle muss ich kurz innehalten. Inge Joseph aus Darmstadt ist 17 Jahre alt. Sie lebt seit über drei Jahren im Exil, zuerst in Brüssel, dann in Südfrankreich. Ihr Status ist extrem unsicher, denn alle jüdischen Jugendlichen über 18 Jahre werden von den Franzosen an die deutschen Besatzer ausgeliefert und nach Auschwitz deportiert werden. Das Schweizerische Rote Kreuz kann keine Garantie abgeben, dass sie in Frankreich sicher ist. Sie hat sich auf eine abenteuerliche Flucht in die Schweiz begeben, scheitert zweimal innerhalb von 48 Stunden und hat sich mit unglaublicher Dreistigkeit und Schläue aus der Gefangenschaft befreit. Nichts beschreibt ihr Verhalten besser als das jiddische Wort Chuzpe. Die Chuzpe einer Siebzehnjährigen mit beeindruckendem Überlebenswillen. Ich bin fassungslos und bewundere den Mut dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit.
Wie soll es weitergehen? Inge will nicht aufgeben! Nicht so nahe an der rettenden Grenze.
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