17 Juli, 2023

Inge Joseph #7: Unverhofftes Glück

Inge lebt seit über zwei Jahren getrennt von ihren Eltern im Exil und ist noch keine 16 Jahre alt. In dieser Situation kann sie sich nichts Schöneres vorstellen: Sie verliebt sich, und ihre Liebe wird erwidert von Walter Strauss, einem kaum ein halbes Jahr älteren Mitbewohner in Seyre und La Hille.

Inge mit Walter Strauß, in der Mitte Elias Haskelevich, 1941

Elias Haskelevich, ein Betreuer, den sie seit Brüssel kennen und den beide wie einen Vater betrachten, nennt sie das „schweigende Paar“, weil sie oft zusammen sind, aber nicht miteinander reden. Doch seine Versuche, die beiden zusammenzubringen, stoßen eher auf Abwehr.

An einem Juliabend des Jahres 41 wird Inge von Walter zu einem Spaziergang eingeladen und gefragt, ob sie seine Freundin werden wolle. Sie willigt ein und sie unterhalten sich über Dostojewskis »Schuld und Sühne«. Danach ist sie überglücklich und gleichzeitig unsicher, ob sie die Rolle der Geliebten ausfüllen kann. Die Unsicherheit einer noch nicht Sechzehnjährigen.

Inge ist tief beeindruckt von Walter Strauss:
Walter war der Inbegriff des Vermittlers, tolerant, gutmütig und einfühlsam. Obwohl er erst sechzehn war, betrachtete er mich als jemanden, für den er Verantwortung übernehmen musste. [...] Er besaß eine Kombination aus Führungsqualitäten, Reife und Charme, die für einen so jungen Mann wirklich bemerkenswert war. Die jüngeren Jungen bewunderten Walter für seinen Wissensschatz, seine Fähigkeit, Mathematik und Naturwissenschaften spielerisch und mit Spaß zu vermitteln, und seine Bereitschaft, ihnen Schach oder das Schnitzen von Holzfiguren beizubringen. Doch seine Reife schmälerte ihn in den Augen der älteren Jungen nicht. Er hatte eine Ausstrahlung, die sie zu ihm hinzog. Selten war Walter allein. Er hatte immer ein Gefolge bei sich, wohin er auch ging.
[...]. 
Meistens sprachen wir über unsere Familiensituationen. So schlimm wie meine war, war die von Walter noch schlimmer. Seine Eltern lebten beide noch in Deutschland, ohne ausländische Verwandte und ohne die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Sein Bruder Siegfried, der einundzwanzig Jahre alt war, befand sich immer noch in Gurs, einem Flüchtlingslager in Südfrankreich, und obwohl Walter mit Vertretern des Roten Kreuzes gesprochen hatte, konnten sie ihm nicht helfen, weil er über der offiziellen geschützten Altersgrenze von achtzehn Jahren lag.  (S.128f)
Sie hat aber wenig Verständnis für das Verhalten von  Walters Eltern:
Das Hauptversagen seiner Eltern bestand, soweit ich das beurteilen konnte, darin, dass sie in Bezug auf Hitler noch naiver waren als meine Eltern, da sie offenbar nichts unternahmen, um jemanden aus der Familie aus Deutschland herauszuholen, bevor sie Walter Anfang 1939 in einen Zug nach Brüssel setzten. Doch selbst in dieser Hinsicht war Walter nicht im Geringsten wütend oder verbittert. Ich unterließ es, mein Erstaunen über das schlechte Urteilsvermögen seiner Eltern zum Ausdruck zu bringen, und ließ nicht zu, dass mein Groll über meine eigenen Eltern unsere Atmosphäre belastete.  (S.128f)
Elias Haskelevich verlässt La Hille im August 1941. Inge vermutet, nicht nur wegen Rösli Näf, sondern auch, weil sie und Walter zu schnell erwachsen geworden sind. Rösli Näf ist beunruhigt über die Tendenz zur Paarbildung zwischen Jungen und Mädchen und bestellt die Mädchen eines Abends zum Rapport:
„Ihr seid alle sehr reife Menschen, und ich muss euch nicht über die Bedeutung von Verantwortung belehren. Sie alle kennen die ernsten Umstände der Welt um uns herum, und Sie verstehen, warum wir hier sind. Ich halte es für meine Pflicht als Verwalter, euch daran zu erinnern, dass persönliche Verantwortung wichtiger denn je ist. Einige von euch haben begonnen, mehr Zeit mit Jungen zu verbringen. Das ist in eurem Alter nur natürlich. Es ist jedoch auch eine Angelegenheit, die mir Anlass zur Sorge gibt. Wenn die Dinge aus dem Ruder laufen und eine von euch schwanger wird, könnte das die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich ziehen. Das würde sicherlich eine große Gefahr für unsere gesamte Gemeinschaft darstellen. Deshalb müsst ihr ein hohes Maß an persönlicher Disziplin an den Tag legen. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das ist.“
     Jede von uns blieb still. Für viele der Mädchen war es das erste Mal, dass Rösli sich ihren Respekt verdient hatte. Wir konnten sehen, dass sie wirklich nur unser Bestes wollte. Während die meisten von uns instinktiv verstanden, wie wichtig es war, einen »Skandal« zu vermeiden, gab Rösli unseren Bedenken eine nützliche Stimme. Sie entließ uns, ohne zu fragen, ob wir Fragen hatten. (S.124f)
An der gegenseitigen Zuneigung von Inge und Walter ändert das nichts.

Post von Mutti?
Inge schreibt S.120, dass sie über die Schweiz monatlich Post von Mutti in Form von sog. Fünfundzwanzig-Wörter-Briefen des Roten Kreuzes erhält (Beispiel siehe oben). Überliefert ist keiner dieser Briefe, da Inge später alles vernichten musste. Im Internet findet man allerdings Näheres zu diesen Briefen.

Routine
Farbige Kinderzeichnung eines Schulraums, gezeichnet von einem Kind im Chateau de la Hille
Quelle: https://collections.ushmm.org/iiif-b/assets/709038

In La Hille hat man sich längst eingerichtet. Der Alltag ist strukturiert und organisiert, gefüllt mit Arbeit, Unterricht und Kultur. Es gibt Theateraufführungen, Konzerte, Sportwettkämpfe, Geburtstagsfeiern und damit viel Abwechslung für die Kinder. Eine eigene Welt ist entstanden. Neue Helfer kommen, um die Kinder zu unterrichten, wie im September der Lehrer Eugen Lyrer aus der Schweiz. Über Eugen schreibt Inge:
Herr Lyrer kam im September in Château la Hille an. Er ging mit zwei der Jungen, die ihn am Bahnhof von Foix abgeholt hatten, den unbefestigten Weg hinauf und trug eine kleine Reisetasche. Neben ihm balancierte einer der Jungen eine Schubkarre, in der sich sein zweites Gepäckstück befand - ein großer Weidenkoffer. [...} Kaum war er angekommen, öffnete er den Weidenkoffer, der mit Klassikern wie »Die Schatzinsel«, »Krieg und Frieden« und Dantes »Inferno« vollgestopft war. Er war extra aus der Schweiz angereist, und der größte Teil seines Gepäcks bestand aus Büchern!
Herr Lyrer war ein Gelehrter und ein Lehrer. Er richtete nicht nur eine Bibliothek in einem der von uns genutzten Studierzimmer ein - seine etwa dreißig Bücher verdoppelten den Umfang unserer bestehenden Sammlung -, sondern führte auch einen offiziellen Unterrichtsplan für alle Kinder ein. Er unterrichtete Geschichte, Mathematik und deutsche Stenografie. (S.135)
Am Wochenende fährt Eugene immer wieder nach Toulouse und besorgt neue Bücher. Inge ist begeistert und glücklich, als erste »Moby Dick« lesen zu können. 

Farbige Kinderzeichnung von drei Jungen, die um einen Holztisch im Chateau de la Hille ihre Schularbeiten machen.

Das gefällt Rösli nicht. Sie, die weniger intellektuell als praktisch veranlagt ist, verbietet den Kindern das Lesen während der Arbeitszeit von 6 bis 16 Uhr. Eugène Lyrer hingegen fördert auch den Wunsch der älteren Kinder, Theaterstücke aufzuführen.

Wende?
Quelle:
File 42: Lists of children’s names and correspondence. In English and French 1939-1942 Bild Nr.9

Was die meisten Kinder nicht wissen: In den USA ist Lilly Felddegen vom HIAS (Hebrew Immigrant Aid Society)- Büro in New York dabei, für möglichst viele Kinder aus La Hille Affidavits zu besorgen, um sie in die USA zu holen. Es gelingt ihr, aber das US-amerikanische Konsulat in Marseille scheint zu mauern. (Varian Fry, der „gute Engel von Marseille“, wird im August 1941 nach New York zurückgeschickt!) und die Kinder können Frankreich nicht verlassen. Walter Strauss wusste, dass er ein Affidavit hatte und korrespondierte im Juli 1941 sogar mit Frau Felddegen in New York. Auch Inge hatte ein Affidavit von ihrer Schwester und ihrem Vater ausgestellt bekommen. Aber sie wusste weder von ihrem noch von Walters. Hat er ihr nichts gesagt?

Von der Welt außerhalb des Schlosses kommen überraschende Nachrichten. Inge schreibt:
Mit Erleichterung nahm ich am 7. Dezember 1941 die Nachricht vom Kriegseintritt Amerikas zur Kenntnis. Südfrankreich hatte den Druck der deutschen Besatzung im Norden immer mehr zu spüren bekommen, und die Lebensmittel wurden immer knapper. Wir konnten immer noch die englischen Nachrichten aus London hören, und die Nachrichten über den ständigen deutschen Vormarsch in Russland ließen uns das Schlimmste befürchten. Wir dachten, dass der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg den Alliierten endlich die zusätzliche Stärke geben könnte, die sie so dringend benötigten. Aber würde es rechtzeitig sein, um uns etwas zu nützen? (S. 138)
Das Weihnachtsfest 1941 wird wieder groß gefeiert. Rösli besorgte nicht nur die Lebensmittel für das  Weihnachtsgebäck, sondern auch den Christbaumschmuck. Alle Bewohner genießen das außergewöhnliche Weihnachtsessen und die musikalischen Aufführungen. Inge geht ins Bett mit dem Gefühl „Bittersüss“ (S.140).

Ein neues Jahr voller Zuversicht beginnt. 

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