17 Juli, 2023

Inge Joseph #16 Once Again?

Nach ihrer gescheiterten Flucht um die Jahreswende 1942/1943 und ihrer Rückkehr nach Schloss La Hille fand Inge Joseph Unterschlupf bei einer französischen Familie im Médoc. Sie nennt sich nun Iréne Marie Jerome.

 
23./24.September 1943: Zerstörung von Inges Elternhaus in der Alicenstraße 
durch den ersten großen Luftangriff auf Darmstadt

Pause
Im Gegensatz zu Darmstadt vergehen die Wochen im Sommerhaus der einst wohlhabenden Familie Rousseau in Jarnac ereignislos . »Iréne«, so heißt Inge jetzt erledigt als Hausgehilfin zuverlässig die ihr aufgetragenen Arbeiten und ist bald ein normales Mitglied der Familie. Ihren 18. Geburtstag feiert sie nicht, denn laut Carte d'identité ist sie erst 17. Es gibt keinen Kontakt mehr zu La Hille, geschweige denn zu Mutti oder Vater und Schwester in den USA. Sie hat das Gefühl, zu viel erklären zu müssen und hat auch Angst, Verdacht zu erregen.

Post

Eines Tages im Oktober erhält Inge Post von Margrit Tännler. Die Leiterin des Schlosses La Hille kehrt krankheitsbedingt, sie hatte Gelbsucht, in die Schweiz zurück. Vorher will sie aber noch »Iréne« besuchen. Sie erzählz von der Möglichkeit, mit Hilfe des Vaters von Anne-Marie Piguet die Schweizer Grenze bei Lausanne überwinden zu können. Inge sträubt sich zuerst, erfährt dann aber , dass ihr Aufenthalt bei der Familie Rousseau nur für 6 bis 8 Wochen vereinbart war und die Zeit nun abgelaufen ist. 
„Wenn du Angst hast, Inge, ist das verständlich. Du solltest aber wissen, dass du nicht die erste La-Hille-Person sein wirst, die diesen Weg geht. Mehrere deiner Freunde haben sie schon gemacht und keiner hatte Probleme. Letzten Monat hat Addi Nussbaum die gleiche Reise unternommen, um seine Schwester Lotte wieder zu sehen. Er hat es gut geschafft, und jetzt sind sie zusammen in der Schweiz.“ 
   „Ja, und das hat man uns auch gesagt, als Walter und ich und die anderen im Januar zu durchqueren versuchte. Und selbst als ich es in die Schweiz schaffte, hat die Polizei mich zurückgeschickt.“ 
Ich spürte, dass Margrit anfing zu denken, dass ich ihre substanziellen Bemühungen nicht zu schätzen wusste. Ich wusste, dass ich nicht rational handelte. Ich war mir bewusst, dass die Schweiz in ganz Europa das einzige Land war, in dem man sicher hoffen konnte, das Ende des Zweiten Weltkriegs zu erleben, egal wie er ausgehen würde. Als ich 1943 durch eine kleine Stadt im besetzten Frankreich spazierte, sah dieser Ausgang nicht so hoffnungsvoll aus, wie er vom amerikanischen Kontinent aus hätte sein können. Ich spürte auch, dass ich Margrit beleidigt haben könnte. Für sie war die Schweiz nicht nur Heimat, sondern auch ein Land, das stolz darauf war, seit Jahrhunderten Flüchtlinge aufgenommen zu haben. 
 „Lass mich noch einmal darüber nachdenken“, sagte ich ihr. Aber wir wussten beide, wie meine Entscheidung ausfallen würde. (S.242)
Once Again
Die Geschichte von Inge Joseph und ihrer Flucht im Oktober 1943 über den Risaux in die Schweiz wird von Anne-Marie Im Hof-Piguet S.112f anders erzählt. Weitere Ungereimtheiten habe ich auf einer eigenen Seite zusammengestellt: Hier
In der folgenden Darstellung übernehme ich aber die Angaben aus Inges Buch, wobei offen bleiben muss, ob die geographischen Angaben die wirklichen Ereignisse korrekt darstellen.

Am nächsten Tag (laut Anne-Marie Piguet der 10. Oktober, ein Sonntag) fahren Inge und Margrit Tännler getrennt, aber im selben Zug nach Lyon. Von dort geht es mit einem anderen Zug nach St. Claude. Zum ersten Mal wird Inge mit ihren Papieren kontrolliert - und sie besteht. In St.Claude, ca. 40 km von der Schweizer Grenze entfernt, wird sie von Madeleine Cordier in Empfang genommen und in ihre Wohnung gebracht, wo sie zusammen mit ihrer Schwester Victoria Cordier übernachten. 

Die Geschwister Cordier und ihre Mutter spielten eine bedeutsame Rolle bei der Flucht jüdischer Kinder in die Schweiz. Mehr dazu erfährt man (in französischer Sprache) auf der Seite von ANACR (Association Nationale des Anciens Combattants et amis de la Résistance dans le Jura).
In den achtziger Jahren wurden die Schwestern Cordier (und andere, z.B. Frau Anne-Marie Imhof-Piguet) interviewt. Leider liegt der Film nur in französischer  Sprache vor:
La Filière, un film de Jacqueline Veuve (1987, 37')

Am nächsten Tag, 13 Uhr, geht es los. Madeleine Cordier instruiert Inge:
„Es gibt noch eine weitere Sache. Jeder, der die Zone betritt, muss eine Sondergenehmigung haben. Wir wollen nicht das Risiko eingehen, dass du dich mit deinem Ausweis ausweisen musst, um eine Genehmigung zu erhalten, denn sie werden alles sehr genau kontrollieren. Ihr müsst also die Straßen meiden, die von deutschen Soldaten patrouilliert werden, und euch dem Haus auf Umwegen nähern.“ 
    Dieser ganze Plan klang immer unsicherer. Aber es war zu spät, um umzukehren. 
[...]
Zuerst fuhren wir mit der Straßenbahn an den Stadtrand von St. Claude. Dann begaben wir uns auf einen vierstündigen Spaziergang durch den Wald. Madeleine trug einen Rucksack mit Lebensmitteln. Sie gab mir einige Lebensmittel, die ich ebenfalls in meinem Rucksack tragen sollte. (S. 243)
Von Champagnole nach Morbiers (A) mit der Lokalbahn und von dort mit dem Fahrrad über Bellefontaine (B) nach Chapelle-Les-Bois, dem Elternhaus der Cortier-Schwestern (A). Am nächsten Tag von Chapelle-des-Bois und dem Risoux-Bergzug nach Sentiers zu Fuß (siehe nächste Karte)

Gegen 17 Uhr trennen sie sich. Madeleine zeigt ihr den Weg über ein Feld, den sie bei Einbruch der Dunkelheit bis zum Haus am Feldrand gehen soll. Madeleine geht direkt zum Haus ihrer Mutter. 

Quelle: http://www.anacr-jura.fr/medias/images/15.-1.jpg?fx=r_1200_800 
Als sie dann im Haus ankommt ist Madeleines Mutter gerade dabei ein Lamm zu schlachten, was eigentlich streng verboten ist. Inge berichtet:
 Madeleine wollte kein Risiko mit Soldaten eingehen und führte mich nach oben auf den Dachboden. Sie half ihrer Mutter, das Lamm zu kochen, und als wir aßen, war alles wieder sauber, auch der Geruch.
   Es war eine bittersüße Mahlzeit. Das Lamm war köstlich und hätte ein ganz besonderer Leckerbissen sein sollen, da meine letzte Fleischmahlzeit mehr als zwei Jahre zurücklag, als ich nach dem Traubenstampfen auf einem französischen Bauernhof zu Abend aß. Aber ich konnte nur auf dem Essen herumhacken, denn mein Magen war ein einziger Scherbenhaufen. Madeleines Mutter war sichtlich enttäuscht über mein schlechtes Benehmen.
   Als ich dort saß, hatte ich das Gefühl, dass eine verurteilte Gefangene ihre letzte Mahlzeit zu sich genommen hatte. Ich hätte es genießen sollen, aber meine Gedanken waren bei der bevorstehenden Hinrichtung. 
(S.245)
Nach dem Essen sitzen sie stundenlang in der Mansarde, während draußen deutsche Soldaten patrouillieren. Ein Scheinwerfer beleuchtet die gesamte Umgebung. 
Gegen 23.00 Uhr verabschiedete sich Madeleine von mir. Ich sollte auf dem Dachboden bleiben und in einem alten Bett mit einer flauschigen Daunendecke schlafen. Ich war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Ich musste immer wieder an die Jeeps, die Soldaten und die Scheinwerfer denken und fragte mich, ob ich noch weitergehen konnte.
Als die Minuten in der Stille der Nacht verstrichen, wünschte ich mir mehr als alles andere, ich hätte Margrits Angebot abgelehnt. Ich wünschte, ich hätte darauf bestanden, in Jurac (vermutlich eher Jarnac; R.W.) zu bleiben und zu versuchen, den Krieg als Irene Jerome, das Dienstmädchen, zu überstehen. (S.246)
Der steile Aufstieg auf den Kamm der Bergkette Risoux.

Auf Geht’s
Sonntag, 10. (oder 17.?) Oktober. Um 11.30 Uhr soll Inge das Haus verlassen. Sie will ihren Ausweis zurück, aber Madeleine weigert sich. Er sei jetzt nutzlos, wenn ihn deutsche Soldaten fänden. Er würde überprüft und als Fälschung erkannt werden. Für andere Flüchtlinge sei er nützlicher. Inge lässt sich überzeugen. Der Weg sei einfach: 75 Meter über eine Wiese und dann in einem steilen Felseinschnitt, dem »Gy de l'Echelle«, etwa 100 Meter auf den Kamm aufsteigen. 


Das Sträßchen auf dem Berg gehöre noch zu Frankreich, der Wald gegenüber sei schon Schweizer Gebiet. Insgesamt beträgt der Höhenunterschied aber an die 300 Meter! 

Ein denkbarer Weg von Chapelle-de-Bois (A) entlang der dunkel angezeigten Grenze zur Waldhütte “Hotel D’Italie” (1) und weiter nach Le Sentier (B). Länge ca. 14 km. Vermutlich hat Inge die Grenze aber an einer früheren Stelle überschritten.

Im Schweizer Wald solle sie nach einer baufälligen Holzhütte suchen mit dem seltsamen Namen Hotel d’Italie. (Siehe auf der Karte Punkt 1.)
Dort würde sie einen »Förster« treffen. 


“Hotel d’Italie“; Quelle: Anne-Marie Imhof-Piguet: Fluchtweg durch die Hintertür

Alles geschieht so wie geplant. Sie erreicht die Straße und:
Egal, was mich auf der Straße erwartete, ich würde über die Straße in den Schweizer Wald rennen. Wenn ich schnell genug rannte und mich hinter einem Baum versteckte, konnte mich vielleicht nicht einmal das Gewehr eines Deutschen erreichen. 
   Mit einem tiefen Atemzug und »Los« überquerte ich die zweispurige Asphaltstraße und rannte über die Straße und etwa fünfzig Meter in den angrenzenden Schweizer Wald. Es war sehr ruhig einen Moment lang. Dann hörte ich eine tiefe Männerstimme: „Inge? Inge Joseph?"
   Innerhalb weniger Sekunden kam ein großer Mann in einer grünen Uniform auf mich zu.
„Willkommen in der Schweiz."  Er lachte. „Ich habe gesehen, wie Sie den Hang hinaufgelaufen sind und die Straße überquert haben. Ich habe noch nie jemanden so schnell rennen sehen." 
Ich lachte auch, denn sonst hätte ich vielleicht geweint.  (S.248)
Der »Förster« war der Vater von Anne-Marie Piguet! Sie war damit in der Schweiz, in sicheren Händen. Endlich in Freiheit. 
Aber wie soll es weitergehen? Wird sie diesmal in der Schweiz bleiben können? Die Geschichte ist noch nicht zu Ende!

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