“Umgruppierung”
Es ist der 26. August 1942. Inge wacht nachts durch ein lautes Hupen auf:Es muss 4:30 Uhr gewesen sein. Als ich den Kopf aus dem Fenster steckte, hörte ich unten eine Männerstimme, die auf Französisch sprach. „Warum verhaften wir Kinder?", fragte er. Eine zweite männliche Stimme antwortet: „Das sind unsere Befehle".
Als ich den Kopf wieder einzog, hörte ich die unverwechselbare Stimme von Hans Garfunkel aus einem anderen Teil des Schlosses. „Mademoiselle Näf! Mademoiselle Näf! Die Gendarmen sind da, Mademoiselle Näf!"
„Es ist die Polizei, und sie steht direkt vor unserem Fenster", verkündete ich meinen Mitbewohnern, die gerade aus dem Schlaf erwachten. „Wir müssen versuchen, einen Ausweg zu finden!" Aber selbst als sie in ihrer Verwirrung zu begreifen versuchten, was vor sich ging, sagte mir etwas, dass es zu spät war. Mein plötzlich trockener Mund hinderte mich daran, mehr zu sagen. (S.153)
Gegen den Willen von Rösli Näf, die betont, dass das Haus unter dem Schutz des Schweizerischen Roten Kreuzes stehe, verlangen die Polizisten, etwa ein Dutzend im Haus und noch mehr vor dem Haus, die Herausgabe der Jugendlichen, deren Namen sie auf einer Liste vorzeigen.
Die ersten Jugendlichen verbrennen Briefe und Fotos ihrer Eltern, Inge ist in Panik und weiß nicht, welche Kleider sie mitnehmen soll.
Es war Rösli, die schluchzend und flehend den Kommandanten anflehte. "Bitte sagen Sie mir, wohin Sie die Kinder bringen. Das ist alles, was ich verlange." "Diese Information habe ich nicht", antwortete der Kommandant.
„Sie müssen etwas wissen", schluchzte Rösli. „Sie werden doch nicht mit diesen Kindern im Kreis herumfahren. Bitte, nur eine kleine Information.“
Der Kommandant zögerte schließlich. Seine Stimme wurde leiser, kaum hörbar auf der anderen Seite der teilweise geöffneten Tür. „Eines sage ich Ihnen“, sagte er zu Rösli. „Nehmen Sie den Kindern die Wertsachen ab, das Gold und die Uhren, bevor sie gehen.“Diese und folgende Stellen finden sich in: Anne-Marie Im Hof-Piguet: Fluchtweg durch die Hintertür; S.68f und sind vermutlich von dort übernommen worden.
Rösli hörte mitten im Atemzug auf zu weinen und keuchte. Ein mulmiges Gefühl überkam mich. Wir sollten in ein Konzentrationslager gebracht werden. Ich hatte Geschichten darüber gehört, wie die Wachen in den Lagern Schmuck, Bargeld und andere Wertgegenstände von den Juden einsammelten, wenn sie ankamen. (S.156)
Überall ist Polizei; Inge sieht keine Fluchtmöglichkeit
Weitere Namen werden aufgerufen, alles Kinder ab 16 Jahren, darunter auch ihr enger Freund Walter Strauss, sowie Flora und Ernst Schlesinger, Mitarbeiter im Schloss. Insgesamt werden 45 Kinder und zwei Erwachsene abtransportiert.
Ich beobachtete den großen, schlanken Kommandanten in Beige und das Klemmbrett, das er in seiner rechten Hand hielt. Als klar war, dass alle Jugendlichen und Erwachsenen versammelt waren, verkündete er: „Auf Anordnung der nationalen Behörden führen wir eine Umgruppierung der Flüchtlinge in diesem Gebiet durch. Ich möchte, dass diejenigen, deren Namen ich aufrufe, zurück ins Schloss gehen und sich in dem großen Raum im ersten Stock versammeln. Ich werde mit dem Appell beginnen.
Inge Berlin.
Ilse Brunell.
Edith Goldapper.
Alix Grabkowicz.
Inge Helft.
Ruth Herz.
Adele Hochberger.“
Ich war fasziniert von dem Konflikt zwischen der französischen Aussprache und den deutschen Namen, da der Kommandant die Betonung immer auf die falsche Silbe legte. So wurde aus Edith Goldapper »Edith GoldapPER« und aus Adele Hochberger »Adele HochberGER«.
„Inge JOSEPH.“ (S.157)
Erste Reihe (von links nach rechts): Gerhard Eckmann, Guy Haas, Paul Schlesinger, Peter Bergmann und Siegfried Findling. Hintere Reihe: Edith Goldapper, Lotte Nussbaum, Inge Joseph, Ruth Klonover und Adele Hochberger. (Die Aufnahme stammt noch aus Seyre, 1940.)
Die Aufforderung, des Polizeioffiziere alles einzupacken, was in einen Rucksack passe, außer Messer, Scheren oder Schreibstifte, ergänzt Rösli:
„Das Schweizerische Rote Kreuz wird alles in seiner Macht stehende tun, um euch zu helfen. In der Zwischenzeit kooperiert mit diesen Männern. Nehmt bitte auch keine Uhren, keinen Schmuck oder andere Wertgegenstände mit. Steckt diese Dinge in einen Umschlag, auf dem euer Name steht, und gebt ihn mir, bevor ihr geht.“ (S.160)Die Kinder werden in zwei Kolonnen eingeteilt und zu einem alten Polizeibus außerhalb des Schlosses geführt.
Der Polizeileutnant ging auf Rösli zu und bedankte sich in aller Form „für Ihre Mitarbeit“. Rösli verzog das Gesicht, und einen Moment lang sah sie aus, als würde sie den Leutnant anspucken. „Sie haben meine Kooperation nur im Interesse der Sicherheit der Kinder erhalten. Hätte ich gewusst, was Sie vorhatten, hätte ich den Kindern schon im Voraus zur Flucht verholfen. Ich hätte nie gedacht, dass es in Frankreich einmal so weit kommen würde, dass Kinder verhaftet werden.“ (S.160)Die Kinder samt Frau Herzberger und ihrem Mann werden ins französische Camp Vernet gefahren, ca. km von La Hille entfernt.
Chemins de Mémoire - Internierungslager in Vernet-d'Ariège (in dtsch)
oder
Camp du Vernet-d'Ariège durant la Seconde Guerre mondiale (WWII)
Auch deutsch bei https://meinfrankreich.com/camp-du-vernet/
Gefangen
Inge beschreibt das Lager:Ich war erstaunt, wie sehr die Realität des Konzentrationslagers mit meinen Vorstellungen übereinstimmte. Die Zäune umgaben eine Reihe von langen Gebäuden, einige aus Holz, andere aus Metall und Teerpappe - alle in unterschiedlichem Zustand. Le Vernet war etwa fünfzig Hektar groß und beherbergte einige tausend Häftlinge. (S.162)
Von den anderen Flüchtlingen in unserem Block erfuhren wir, dass Le Vernet eines der kleineren, aber härteren französischen Konzentrationslager war. Schlimmer noch als Dachau in Deutschland, behaupteten einige der Häftlinge. In Dachau, so hieß es, wurden die Gefangenen ermordet, während sie in Le Vernet an Hunger und Krankheiten starben. Diejenigen, die überlebten, wurden in Le Vernet als Sortierstation für die Deportation in die Konzentrationslager im Osten eingesetzt. (S.163
Im Lager trifft sie auf ihre Freundin Ruth Schütz, die schon einige Tage vorher auf einem Bauernhof festgenommen und interniert wurde.
Das Lager war ein reines Männerlager, aber ein Teil, in dem wir uns befanden, war kürzlich für jüdische Frauen und Kinder eingerichtet worden. Schließlich erfuhren wir, dass Camp le Vernet insgesamt drei Hauptabteilungen hatte - eine für verschiedene nichtjüdische, männliche politische Gefangene und spanische Partisanen im spanischen Bürgerkrieg, eine für jüdische Männer und unsere für jüdische Frauen und Kinder. Es war noch unter seiner ursprünglichen Bezeichnung als "camp de pression" bekannt, ein Ort, der speziell für politische Extremisten eingerichtet wurde. Die Nazis hatten erst vor kurzem damit begonnen, Juden dorthin zu schicken, weil sie zusätzliche Plätze brauchten, um alle Zusammengetriebenen unterzubringen.
Jeden Tag strömten Dutzende von Neuankömmlingen in das Lager. In einigen Fällen kamen Mütter mit sehr kleinen Kindern. Und mit ihnen wurden unsere Baracken immer voller. In der dritten Nacht drängten sich etwa achtzig Frauen mit uns in den Kojen, was bedeutete, dass wir nur auf der Seite schlafen und die Position nur wechseln konnten, wenn sich alle im Gleichschritt bewegten. Es überrascht nicht, dass wir die ganze Nacht in der gleichen Position schliefen. (S.163)
Am ersten Abend im Lager erhält Inge von einer Mitgefangenen die Nachricht, dass ihr Freund Walter Strauss sie am Stacheldrahtzaun treffen wolle. Am zweiten Abend findet das Treffen am Zaun statt. Walter berichtet, dass unter den Jungen viele Gerüchte kursierten, meist über einen bevorstehenden Abtransport in die gefürchteten Lager in Polen und Deutschland.
Warten
Außer dem Morgenappell gab es den ganzen Tag nichts zu tun. Die Lagerinsassen konnten nur auf die kärgliche Verpflegung (Gemüse, Ersatzkaffee und manchmal etwas Brot) warten und um die Baracken herumgehen. Nur zweimal am Tag gab es etwas Wasser für die notwendigste Körperhygiene. Das Wasser musste in kleinen und großen Kannen in die Baracken getragen werden, wenn man sich unbeobachtet von den Wachen waschen wollte. (S.164f)Inge gibt sich der Lagerroutine hin. Von den Bauern der Umgebung gibt es immer wieder Früchte, die nicht in den Norden transportiert werden können oder zu schlecht für den Markt sind. Eine willkommene Ergänzung für die Lagerinsassen, auch wenn die unreifen Früchte oft zu Magen- und Darmproblemen führen.
Rettung?
Und dann die große Überraschung: Am vierten Tag trifft Rösli Näf ein. Inzwischen hatte sie Maurice Dubois, den Leiter der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, informiert, der sofort nach Vichy reiste und bei der französischen Regierung intervenierte.
(Auch die folgenden Berichte von Inge stammen vermutlich nicht direkt aus dem Originalmanuskript von Inge Joseph, sondern aus den Büchern und mündlichen Berichten von Rösli Näf und Anne-Marie Im Hof-Piguet und wurden von David E. Gumpert eingefügt).
„Ich gehöre zum Schweizerischen Roten Kreuz, das hier in Frankreich ansässig ist, und wir haben in Montegue eine Reihe von Kindern betreut“, hörte ich sie dem Kommandanten sagen. „Sie haben neununddreißig dieser Kinder und zwei unserer erwachsenen Mitarbeiter verhaftet. Es sind meine Kinder, und ich bin gekommen, um sie zurückzuholen.“ Ich habe nicht genau gehört, was der Kommandant sagte, aber er sagte ihr offensichtlich, dass wir nicht entlassen würden. Ehe wir uns versahen, war Rösli auch ein Bewohner des Lagers und wohnte in einem Gebäude, das für die Franzosen reserviert war. Ihre Ankunft hatte unsere gesamte Situation völlig auf den Kopf gestellt, von Hoffnungslosigkeit zu Jubel. Doch der Optimismus war nur von kurzer Dauer. (S.166f)
Die Kinder erkennen in den vorsichtigen Worten von Frau Näf, dass eine unmittelbare Entlassung nicht bevorsteht und die einzige Konzession der Franzosen ist, dass die Betreuerin bei den Kindern im Lager bleiben darf. Es seien jedoch Verhandlungen zwischen Maurice Dubois, der Schweizer Botschaft und der Vichy-Regierung im Gange.
In einer ruhigen Minute erzählt Rösli, wie es ihr gelungen ist, nach Le Vernet zu kommen, obwohl sie anfangs nicht wusste, dass man die Kinder dorthin gebracht hatte. Ein französischer Beamter habe ihr den Namen zugeflüstert, worauf sie sich mit dem Fahrrad und der Hilfe eines Milchwagen-Fahrers auf den Weg gemacht - 60km von Foix nach Le Vernet.
Als sie im Lager ankam, wollten die Wachen sie nicht hineinlassen, also ging sie einfach weiter und redete. Sie waren kurz davor, sie hinauszuwerfen, als einer der Wächter intervenierte. Es stellte sich heraus, dass er einige Zeit in der Schweiz verbracht hatte und den schweizerdeutschen Dialekt von Rösli sprach (der für uns Deutsche sehr schwer zu verstehen war). Er erklärte sich bereit, sie zum Lagerkommandanten zu bringen, der seinerseits zustimmte, sie in der Baracke unterzubringen, die für die Vertreter des französischen Roten Kreuzes reserviert war. (S.168)Am sechsten Morgen werden beim Appell viele Hundert Inhaftierte aufgerufen und in bereitstehende Viehwagen gebracht.
Nachdem Rösli alle Gegenstände eingesammelt hatte und zurück in Richtung Lager ging, brüllte eine Männerstimme aus einem der Viehwaggons: „Sag ihnen in der Schweiz, wie sie die Männer behandeln, die für Frankreich gekämpft haben.... Es lebe die Schweiz!“(Auch diese Geschichte findet sich ähnlich bei Anne-Marie Im Hof-Piguet; S.67 - 72. Frau Hof-Piguet schreibt zu Beginn des Kapitels »Wie mir Rösli Näf,damals Leiterin auf Schloss La Hille,die Ereignisse geschildert hat...«).
Langsam, ganz langsam, begann sich meine Angst zu legen. Während es für einige meiner Freunde offensichtlich gewesen sein mag, dämmerte mir gerade, dass wir nicht für eine besondere Bestrafung ausgewählt worden waren, sondern für eine besondere, privilegierte Behandlung. Man hatte uns aus dem Todeszug herausgelassen.
Zehn Minuten später war der Zug verschwunden, und wenige Minuten später kam der Kommandant zu unserer Kaserne. Er kündigte uns an, dass wir auf Rösli warten und noch am selben Tag ins Rotkreuzheim zurückkehren sollten. (S.169)
Die Intervention der Schweizer war also offensichtlich erfolgreich. Alle Kinder sind wieder frei.
Am 2. September sind sie alle wieder im Schloss!
Weitere Versuche von Maurice Dubois und seiner Frau Eleonor Imbelli, den gefährdeten Kindern eine Einreise in die Schweiz zu ermöglichen, scheitern am Widerstand des Schweizer Roten Kreuzes und des Bundesrates. Seit dem 13. August 1942 sind die Schweizer Grenzen hermetisch abgeriegelt. Juden werden nicht als politische Flüchtlinge anerkannt. Man sagt: „Das Boot ist voll“.
(Das Boot ist voll bezieht sich auf eine Rede des Schweizer Justizministers Eduard von Steiger vom 30.8.1942, in der er davon sprach, dass man ein volles Rettungsboot gefährde, wenn man weitere Menschen aufnehme. Damit waren vor allem jüdische Flüchtlinge in die Schweiz gemeint. Aus ganz Frankreich wurden zwischen März und November 1942 in 43 Transporten insgesamt 41.951 Juden deportiert, darunter 6.000 Kinder. Aber allein in der Zeit der Razzien von Mitte Juli bis Anfang September wurden 33.057 Menschen in 34 Transporten deportiert (vgl. Vera Friedländer, a.a.O., S.103 und S.121).
Zurück aus dem Lager ist allen klar: Es gibt keine Sicherheit mehr für die Bewohner von La Hille. Es muss etwas geschehen. Aber was?
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