Alle Angaben zu Inge Joseph und auch die Fotos stammen aus der (Auto-)Biografie:
Inge Joseph Bleier & David E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi Europe.
William B. Eerdmans Publishing Co.
Grand Rapids, Michigan / Cambridge UK. 2004.
Wo immer möglich, versuche ich, Inge Joseph selbst mit Zitaten aus ihrem Buch zu Wort kommen zu lassen. Damit soll ein Höchstmaß an Authentizität gewährleistet werden.Der Originaltext ist (logischerweise) durchgehend in englischer Sprache verfasst. Um den Zugang zu erleichtern, habe ich Zitate in der Regel mit Hilfe von deepl.com/translator übersetzt.
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Pogromnacht 9. November 1938
Inge schreibt:
Hitler muss gehört haben, dass mir meine neue Schule gefiel, denn es dauerte nicht lange, bis er sie ganz abschaffte. Vier Monate nach Lilos Abreise in die Vereinigten Staaten, am 9. November 1938, wurde die Düsternis unserer Zukunft kristallklar. An diesem Abend löschten Mutti und ich das Licht im Wohnzimmer und saßen schweigend da und lauschten dem zerbrechenden Glas jüdischer Schaufenster und den Schreien jüdischer Männer, die vom Mob oder der Polizei abgeführt wurden. Wir hatten kein Telefon, also konnten wir auch nicht mit unseren Verwandten kommunizieren. Es war Kristallnacht. Ich fühlte mich furchtbar verletzlich und fragte mich, ob der Mob zu unserer Wohnung kommen und uns abschleppen würde. Aber irgendetwas sagte mir, dass das unwahrscheinlich war, da es genug Männer gab, die sie auf Trab hielten. Alles, was ich fühlte, war Taubheit.Das war letztlich fatal, wie Inge meint, denn ihre Mutter ahnte nicht, welchen gewaltigen Unterschied es machte, ob man nach England oder nach Belgien fliehen würde. (S. 22)
Später am Abend, als es so aussah, als sei die Krise endlich vorbei, konnten wir, abgesehen von dem beißenden Rauchgeruch, den Schein der Feuer am Himmel sehen. Am nächsten Morgen erfuhren wir von Verwandten, dass Banden von Deutschen die Liberale Synagoge in Brand gesetzt hatten. So viel zur Schule.
Inzwischen hatte jeder die Botschaft verstanden, laut und deutlich. Hitler war es todernst damit, die Juden loszuwerden. Wir sollten eigentlich schlaue Leute sein, aber in dieser Situation waren wir sicherlich langsame Lerner.
Unter den Verwandten und Freunden meiner Familie wurde die Auswanderung zum Hauptziel des Lebens. Das einzige Problem war, dass uns jetzt, wo wir endlich bereit waren zu gehen, niemand haben wollte. Und ich meine, niemand. Nicht Amerika, England, Kanada und keines der europäischen oder südamerikanischen Länder. Ein paar Leute flüchteten zwar noch nach China, aber das sollte ein miserabler Ort zum Leben sein, mit genauso vielen täglichen Gefahren wie in Deutschland. Die Kontingentierung und die Beantragung von Visa wurden für viele Menschen zu einer Übung in Vergeblichkeit.
Trotzdem bemühte sich Mutti, beim amerikanischen Konsulat Quotennummern für uns zu bekommen. Sie korrespondierte mit unseren Verwandten in England, Belgien und Amerika und bat sie inständig, uns ein Visum zu schicken. Das Leben in Nazi-Deutschland in den späten 1930er Jahren war für uns wie ein Strick um den Hals. Die einzige entscheidende Frage war: „Wird es möglich sein, das Land zu verlassen, bevor der Strick enger gezogen wird?"
Der einzige Hoffnungsschimmer für mich waren die sich neu bildenden »Kindertransporte« nach England und Belgien. Nach der Kristallnacht öffneten diese Länder ihre Türen einen Spalt breit, aber nur für Kinder - Erwachsene waren nicht zugelassen. Also beantragte Mutti für mich eine dieser begehrten Ausreisegenehmigungen, nach England oder Belgien. (S. 20f)
Kindertransport nach Brüssel
Weitere Informationen auf Wikipedia.
“Transportbutton” für die jüdischen Kinder
Am 11. Januar geht es auch für Inge los. Gemeinsam mit ihrer Mutter fährt sie mit dem Zug von Darmstadt nach Köln, von wo aus der Transport der jüdischen Kinder nach Brüssel startet.
Die Mutter bleibt zurück, hilflos der deutschen Terrorpolitik gegen die Juden ausgeliefert und einer ungewissen Zukunft entgegensehend.
Als der Zug aus dem Kölner Bahnhof ausfuhr, stand sie regungslos auf dem Bahnsteig, in ihrer charakteristischen Pose mit der rechten Hand auf der rechten Hüfte. Als ich sah, wie ihre zierliche Gestalt immer kleiner wurde, vermisste ich sie bereits, und ich wusste, dass ich sie noch mehr vermissen würde. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie groß das Loch sein würde, das ihre Abwesenheit in mein Wesen reißen würde. Jahre später verbrachte ich Stunden im Drogenrausch damit, nach ihr zu rufen. [...]
Endlich war ich raus aus Deutschland. Ich war auf mich allein gestellt. Nein, es war nicht Amerika, aber Brüssel war frei. Als Dreizehnjährige verstand ich nicht wirklich, dass die Nähe zu Deutschland die Stadt extrem verwundbar machte. Alles, woran ich denken konnte, war die Möglichkeit, dass ich Filmstars sehen könnte.”(S.24)
In Brüssel lebt ein Cousin des Vaters, Gustav Wurzweiler*, genannt Go, der sich bereit erklärt hat, Inge aufzunehmen. Wie Inge schreibt, ist er zwar nett zu ihr, aber weder er noch seine Frau Loulou ** (von ihr “Lou” genannt) haben eine Ahnung von Kindererziehung. Sie sind sehr wohlhabend, leben in einem Haus mit allem Luxus und pflegen einen anspruchsvollen Lebensstil, zu dem auch der obligatorische Tennisnachmittag am Sonntag gehört. Gustav Würzweiler ist, wie Inge feststellt, sehr religiös, ohne die freiwilligen Glaubensregeln begründen zu können.
Zwischen der noch sehr jungen Loulou und Inge entwickelt sich ein sehr enges, fast intimes Verhältnis.
Inge besucht in den folgenden Wochen eine private höhere Schule (École Fernand Cou), „wie die Eleonorenschule in Darmstadt”, schreibt sie am 9.2.1939 in einem Brief an ihre Schwester Lilo und berichtet stolz, dass sie sehr gute Noten in der Schule hat.
Von nun an bis Mitte 1940 schreibt sie regelmäßig an ihre Schwester in Chicago. Anfangs alle 14 Tage, später in größeren Abständen. Oft sind die Briefe mit der Klage verbunden, zu wenig von der Schwester zu hören. Inhalt der Briefe ist fast immer die Schilderung ihres Alltags, Cafébesuche, Klatsch und Tratsch über die Gastgeber und über Verwandte, die auf dem Weg ins Exil in Brüssel vorbeischauen.
Briefauszug vom 23.7.1939
Durch diese Briefe erhalten wir ein recht anschauliches Bild von ihrem Leben in Brüssel und von den Wünschen und Träumen einer Jugendlichen im Exil.
Die Briefe an ihre Schwester Lilo sind, einschließlich eigener Übersetzungen ins Englische von Inges Hand, online zugänglich:
Eines Nachmittags muss sie feststellen, dass Onkel Go zwar Pläne für den Kriegsfall hat, Inge aber nicht in diese Pläne einbezogen ist.
Inge ist noch keine 14 Jahre alt und lebt nun getrennt von ihren Eltern und ihrer Schwester im Exil in Brüssel. Wie soll, wie wird es weitergehen?
Demnächst mehr!
*Von Gustav Wurzweiler, eigentlich Würzweiler, wird später noch einmal die Rede sein. Ihm und seiner Frau gelang die Ausreise in die USA, wo sie ihr Vermögen noch vermehren konnten. Inge und er trafen sich dort wieder - mit überraschendem Ausgang.
** Eigentlicher Name: Maria Luise, geb. Bloch; geboren 17.5.1906 in Brüssel.
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