17 Juli, 2023

Inge Joseph #4: Flucht aus Brüssel

 Zeitenwende

Das Leben in Brüssel geht vorerst fast ungestört weiter. Es gibt zwar kleinere Unannehmlichkeiten, wie den zunehmenden Hass auf die Deutschen und damit auch auf die deutschen Flüchtlinge. Es ist nicht mehr ratsam, auf der Straße Deutsch zu sprechen. Aber ansonsten könnte man fast von Normalität sprechen. Zumindest versucht Inge in ihren Briefen an Lilo diesen Eindruck zu erwecken. “Vom Krieg merkt man nicht viel”, schreibt sie am 14.12.1939 an Lilo. Doch immer öfter schleicht sich ein neues, beunruhigendes Thema ein. Die immer wieder scheiternden Versuche, die Mutter und sich selbst zu retten. Und was es noch nie gegeben hat: Es folgt ein Wutausbruch gegen ihren Cousin Robert (Joseph). In einem Brief vom 18. Januar 1940 schreibt sie:
Dein Robert ist das größte Ekel!!! der Welt. (dreifach unterstrichen) Denn was hat dieser Schuft schon großes getan???????? Ich gehe regelmäßig zu Gustav und will dir mal was erzählen. Robert stellte neu das Affi für Vater und Mutter, nicht für mich. Ich will gar keins haben denn ich will vorerst hier bleiben. Vater will zwar jetzt doch um ein Affi bitten. Aber ich will nicht!!
Zur Erläuterung: Affi(davits) spielten in der NS-Zeit eine herausragende Rolle. Mit ihnen konnten Freunde, Verwandte, aber auch Organisationen außerhalb Deutschlands für einen Verfolgten bürgen, damit dieser in ein drittes Land (USA, Großbritannien, Mexiko etc.) einreisen konnte. Damit wurde bescheinigt, dass der Verfolgte im Aufnahmeland von Privatpersonen oder Organisationen unterstützt wurde und keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen konnte.

Der Krieg holt Inge ein

Am 11. Mai 1940 erlebt Inge den Einmarsch der Deutschen in Belgien: Blitze am Himmel und weiße Fallschirme erschrecken die Bewohner des Kinderheims Général Bernheim. Die telefonisch erbetene Hilfe von Onkel Gustav fällt aus, denn er und seine Frau haben Brüssel sofort nach den ersten Bombeneinschlägen mit dem Auto und unbekanntem Ziel fluchtartig verlassen.

Ihren Freundinnen geht es ähnlich: Hilfe ist nicht zu erwarten, die Situation ist unübersichtlich und verzweifelt. Im Haus geht es drunter und drüber, aber der Lebertran zum Essen wird von der Küchenverwaltung nicht vergessen, beklagt sie sie sich in einem Brief. Die Jugendlichen wechseln von Verzweiflung zu Galgenhumor. Sie singen:
Und der Haifisch, der hat Zähne  
und die trägt er im Gesicht. 
Doch im Magen hat er Lebertran  
und den Lebertran sieht man nicht ...
Vier Tage leben sie unter verschärften Bedingungen im Heim: Nachts, bei Bombenangriffen, schlafen sie im Untergeschoss, tagsüber leben sie für kurze Zeit im Obergeschoss “mit Lebertran”. Inge hört ein Telefongespräch Elkas mit, in dem sie bei einer Regierungsstelle um einen Transport aus Brüssel bittet, um die Kinder vor dem Krieg zu retten; wenn es sein muss, in Güterwaggons.

Am 14. Mai fordert Elka Frank die Kinder auf eine Tasche zu packen und möglichst viele Kleider anzuziehen. Um 4 Uhr nachmittags verlassen sie das Heim.

Flucht

Es beginnt die Flucht mit dem Zug nach Südfrankreich.
Jedes von uns fünfundzwanzig Mädchen trug einen Wintermantel, und alle liefen mit einer ungewohnten Steifheit: Unter unseren Mänteln trug jede von uns zwei oder drei Pullover, zwei oder drei Hosen und ein oder zwei Kleider. Ich schwitzte sehr stark. (S.61)
Elka bringt sie auf dem überfüllten Brüsseler Hauptbahnhof zu einem Güterzug, in den schon andere Kinder “verfrachtet" werden:
Ich hatte wirklich den Tiefpunkt erreicht: Ich befand mich in einem dunklen Güterwaggon, der für Tiere bestimmt war, mit anderen Menschen, deren Haut von Läusen wimmelte. Es gab keinen Platz, um auf die Toilette zu gehen. Nicht ein Fünkchen Privatsphäre. Ich wollte diesem Alptraum einfach nur entkommen - oder sogar durch den Boden fallen. (S.62)

In der Nacht wird der Zug bombardiert, alle sind zu Tode erschrocken, aber der Zug setzt seine Fahrt fort und erreicht am frühen Morgen Frankreich in der Nähe von Abbeville.
Die Franzosen empfingen uns mit offenen Armen. An jeder Station, an der wir anhielten, wurden wir mit freundlichen Worten und einem Haufen Käse- und Tomatensandwiches empfangen. (S.63)
Der erste “Kontakt” mit französischen Toiletten ist für Inge eine unangenehme Überraschung.
Am siebten oder achten Abend der Flucht (nach Edith Goldapper am vierten Abend; ebenso Vera Friedländer, die vom 18. Mai spricht) erreichen sie einen kleinen Ort, etwa 40 km südöstlich von Toulouse entfernt in Okzitanien, wo die Fahrt endet. Zu Inges Überraschung sind auch etwa 50 jüdische Jungen aus Brüssel mit ihnen im Zug gewesen. In 7 km Entfernung finden sie ihre vorübergehende Bleibe:

Südfrankreich, Okzitanien, im Frühsommer? Das klingt doch nicht schlecht?
Inge weiß anderes zu berichten.

Seyre
Das Dorf Seyre hatte etwa hundert Einwohner in seinen acht oder zehn beigen Stuckhäusern entlang der Hauptstraße, und die meisten waren alte Männer und Frauen mit Kindern. Die jungen Männer befanden sich alle im Krieg und versuchten, die deutschen Invasoren zurückzudrängen. Unsere Gruppe von Jungen und Mädchen aus Brüssel verdoppelte also die Einwohnerzahl von Seyre. (S.65)
[...]
Wir gingen die staubige Hauptstraße von Seyre hinunter zu einem langen, grauen, zweistöckigen Gebäude. Als die ersten Mädchen eintraten, schnappten sie nach Luft und hielten sich die Münder zu. Ich erfuhr bald, warum: Hier roch es wie auf einem Bauernhof. Die Mädchen wurden angewiesen, eine schmale Treppe hinaufzusteigen. Die Jungen blieben im unteren Stockwerk. 
Der staubige Holzboden war mit Stroh bedeckt. Enttäuscht, aber zu erschöpft, um sich zu beschweren, zogen wir alle schweigend unsere Mäntel aus, schälten uns von den zusätzlichen Kleidungsschichten und legten uns hin. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. (S.66) 


Inge fühlt sich in den Abgrund geworfen. Sie findet, in Seyre leben sie wie Tiere
Wir hatten unsere eigene Chronik der Pestilenz und Plagen. Erstens hatten wir wenig an grundlegenden Dingen. Für Toilettenpapier in unserem kleinen Plumpsklo oder auf dem Rücksitz mussten wir nach Blättern schnorren. Für Seife mussten wir Sand verwenden, den wir an der Straße ausgegraben hatten. Unsere einzige Kleidung war das, was wir anhatten und im Zug trugen. Ich versuchte, meine Sachen einmal in der Woche zu waschen, aber oft gab es nicht genug Wasser. So hatte ich manchmal halbwegs saubere Kleidung, aber meistens wechselte ich mich mit denselben wenigen schmutzigen Sachen ab.
Wir wussten nicht, woher unsere nächste Mahlzeit kommen würde oder ob sie überhaupt kommen würde. Das einzige Lebensmittel, das wir in einigermaßen ausreichender Menge vorfanden, oder das wir uns zumindest leisten konnten, war Maismehl. Morgens und abends gab es irgendeine Variante von Maismehlbrei. Manchmal war es Maismehl mit Zwiebeln, manchmal war es mit Melasse gesüßtes Maismehl. Mittags war die Hauptmahlzeit gewöhnlich eine Art Eintopf. Manchmal war es ein Eintopf mit echten Fleisch- und Gemüsestücken, aber meistens bestand er aus übel riechenden Tierdärmen, die mit Scheiben von altem Baguette serviert wurden. Ich weiß nicht genau, wie Glora Schlesinger gekocht hat, denn alles, was sie hatte, waren ein paar Töpfe und eine Feuerstelle in der Scheune. Da wir keine Möbel und nur wenige Utensilien hatten, war das Essen eine primitive, erniedrigende Erfahrung, denn wir mussten den Brei im Stehen oder auf dem Boden sitzend essen. (Brief vom 18.19401)
Freundin Ruth Schütz kommentierte trocken: “Das Essen war nicht für den menschlichen Verzehr geeignet.” (Ruth Schütz, S.90)
Fast alle von uns zogen sich Hautwunden zu - wahrscheinlich, weil wir auf Heu schliefen, das nicht gewechselt wurde und immer schmutziger wurde, je mehr Dreck wir von draußen hereinbrachten. (S.68)
Sobald sich eine Hautwunde verhärtete und der Schorf abfiel (was eine Narbe hinterließ), traten mehrere andere an ihre Stelle. [...] Diese Hautprobleme sind nie ganz aus meinem Leben verschwunden. Während ich dies schreibe, sind die Wunden an den Beinen, die ich kürzlich entwickelt habe, nicht verheilt und haben mich sogar für zwei Wochen ins Krankenhaus gebracht. (S.69)
Später kommt zu den beschriebenen Problemen noch eine Läuseplage hinzu. Sie wird bekämpft, indem die Mädchen ihre Haare mit Benzin waschen und schließlich alle Kinder komplett kahl geschoren werden. Für viele Mädchen eine Katastrophe. Es gibt auch Übergriffsversuche durch betrunkene französische Soldaten. Das Haus der Mädchen muss deshalb auch tagsüber verschlossen bleiben. Sie waren Gefangene in der Freiheit.

In Seyre angekommen: Die Mädchen aus dem Heim Général Bernheim, Zuun/Brüssel
und die Jungen aus dem Heim Speyer in Anderlecht.

Inge ist in der 2. Reihe von oben im Zentrum; ihre Arme liegen auf den Schultern von Edith Goldapper (links) und Alix Grabkowitz (rechts).

Mehr Informationen zur Entstehunggeschichte des Fluchtpunkts Seyre beim
United States Holocaust Memorial Museum unter “About this Photograph

Die politischen und militärischen Ereignisse überschlagen sich:
28.5. Belgien kapituliert
14.6. Deutscher Einmarsch in Paris
22.6. Waffenstillstand

Die Kinder in Seyre bekommen davon nichts mit.

Wie wird es weiter gehen? Haben die Kinder eine Zukunft im "freien" Frankreich?
Bleiben Sie dran!

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