Konsequenzen
Inge ist wieder am Ausgangspunkt ihrer Flucht angekommen, auf Schloss La Hille. Mit bitteren Erfahrungen, Enttäuschungen, aber auch mit dem ungebrochenen Willen, sich nicht passiv dem Schicksal zu ergeben.
Inge findet im Büro von Rösli Näf ein Dkument des SRK, das sie entsetzt:
Ich versuchte, mich nicht mit unserem verpatzten Fluchtversuch zu befassen, aber die wahren Auswirkungen wurden mir eines Tages Anfang Februar schmerzlich bewusst, als ich in Röslis Büro einige Akten ablegte. [...] Ein Absatz hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt:Sie kommt zum Schluss, dass Röslis Karriere zu Ende ist und die Kinder keine Hilfe mehr vom Schweizerischen Roten Kreuz erwarten können. Und so kam es auch: Rösli Näf wurde abgezogen. Inge fühlt sich mitschuldig an den Folgen der missglückten Flucht.
»Judenkinder« von Château la Hille der Schweizerischen Rotkreuz-Kinderhilfe wurden von der Leiterin, Fräulein Näf, weggeschickt, um illegal die Grenze zu überqueren.... In der Nacht vom 6. auf den 7. Januar wurden vier der Kinder von der deutschen Grenzpolizei in Gewahrsam genommen. Sie informierten die deutschen Zollbeamten in Lyon. Dieses Verhalten der Heimleiterin wurde als politisch töricht und angesichts der winterlichen Verhältnisse als menschlich unvorstellbar bezeichnet. Einstimmig wurde beschlossen, dass sich das Schweizerische Rote Kreuz von der Heimleiterin distanzieren muss. Es wird vermutet, dass auch Herr Dubois in diese Vorgänge verwickelt war. (S.219f)
Mitte Februar dann die Katastrophe. Walter wird zusammen mit Ernste, Manfred Kamlet, Bertrand Elkan und Henri Brunell von französischen Polizisten verhaftet. Durch einen Trick gelingt es den Polizisten, auch den Ehemann von Frau Schlesinger, der Köchin von La Hille, festzunehmen. Unter dem Vorwand, sie bräuchten seinen Rat in Tabakfragen, ruft Frau Schlesinger ihren Mann zu sich, der sich in einem Versteck aufhält. Er wird sofort abgeführt. Das alles konnte nur geschehen, weil ihr »Spion« in der französischen Verwaltung, Ilse Brunell, einige Tage nicht bei der Arbeit war.
Anfang Februar: Kapitulation von Stalingrad. Das Ende der deutschen Eroberungskriege wird eingeleitet.
18. Februar: Rede von Goebbels »Wollt ihr den Totalen Krieg?« Die auserwählten Zuhörer schreien ja - und sie bekommen diesen Krieg.
18. Februar: Die Geschwister Scholl werden beim Auslegen von Flugblättern in der Münchener Universität beobachtet, bei der Gestapo denunziert und am 22. Februar hingerichtet.
Sie erfährt davon vermutlich nichts. Man hatte in La Hille sicher andere Sorgen.
Post
Im März erhält Inge zu ihrer Überraschung Post von Walter:Er und Ernste Schlesinger (s.o.) sind auf einem Transport im Zug von Gurs nach »Droncy« (er meint wohl Drancy). Walter schreibt:
Ich bin keineswegs fatalistisch, obwohl ich vor zwei Uhr noch fest entschlossen war, deinem Beispiel zu folgen, auch wenn es fast unmöglich gewesen wäre. Aber ich habe meine Meinung geändert. Einige Leute, die nicht unbedeutend sind und mehr Erfahrung haben als ich, konnten mich davon überzeugen, dass es für mich besser ist, Dela zu folgen. Diejenigen, die fähig sind zu arbeiten, werden ihre Arbeit bekommen, und ich bin glücklich, dass ich zu den ersten gehöre.[...]Ich war schon lange nicht mehr so ruhig wie jetzt, wo ich mich zum Bleiben entschlossen habe. (S.223)
Inge kommentiert empört: „War das Walters Naivität oder wollte er mich nur beruhigen?“ Sie versucht, ihm über das Internationale Rote Kreuz eine 25-Wörter-Nachricht zukommen zu lassen, weiß aber nicht, ob sie je angekommen ist.
Bis zum Frühjahr 1943 haben alle ihre Freunde und auch die Direktorin Rösli Näf das Schloss verlassen. Margrit Tännler wird neue Leiterin. Ende Mai erhält Inge wieder eine Postkarte von Walter, auf Deutsch geschrieben mit den Worten „Ich bin bei bester Gesundheit“ - sie glaubt es nicht und ist sich sicher, dass er sie nur beruhigen will. Als Absender ist Lublin, Maidenka (! - gemeint ist Majdanek) angegeben.
Das war die letzte Nachricht von Walter.
Walters Entscheidung
Laut Inge kommt der »Engel von Gurs«, Elzbeth Kesler (korrekt: Elsbeth Kasser), nach La Hille. Sie war vorher im KZ Gurs und hat dort sehr erfolgreich die Verbesserung der Lebensumstände im Lager durchgesetzt.
»Elzbeth« will Inge sprechen. Sie berichtet, dass sie Walter Strauss in Gurs als Helfer des Schweizerischen Roten Kreuzes aus dem Lager schmuggeln wollte, dass Walter sich aber genau mit diesen Worten geweigert habe:
'Fräulein Kesler, ich weiß Ihr Interesse an meiner Situation und Ihr großzügiges Angebot zu schätzen. Ich würde es gerne annehmen. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht das Risiko eines weiteren Debakels eingehen, wie ich es an der Schweizer Grenze hatte. Ich mache mir keine Sorgen um mich. Ich mache mir Sorgen um die anderen. Es würde zu viele Kinder in Gefahr bringen. Das kann ich nicht auf meinem Gewissen haben.'
„Ich flehte ihn an, es sich noch einmal zu überlegen, aber er sagte mir, dass er sich entschieden habe, dass seine Entscheidung endgültig sei. Er sagte, er sei mit sich im Reinen."
Elzbeth lächelte mich weiterhin sanft an, als sei sie ebenfalls im Frieden. Ich glaube, sie erwartete von mir eine Bestätigung von Walters Selbstlosigkeit und Heldenmut. Doch als ich sie an Walters Stelle sitzen sah, wollte ich nur noch ausspucken und ihr sagen, was für ein Narr Walter war. Ich wollte sie anschreien, weil sie mir diese erbärmliche Geschichte überhaupt erzählt hatte. Aber natürlich tat ich es nicht. Ich habe nichts gesagt oder getan.
Und Inge ergänzt:
ES KOMMT EINE ZEIT IM LEBEN, in der die bevorstehende Zukunft undurchdringlich erscheint - unmöglich zu erahnen. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten existierte ich einfach.Wie könnte ich nicht deprimiert sein? Walter hatte seinen Todesspruch akzeptiert.Trotz alledem war ich hartnäckig. Ich würde versuchen, die Gefühle und die Situation zu bekämpfen, so wie ich den deutschen Kommandanten bekämpft hatte. Ich würde die Deutschen härter arbeiten lassen, um mich zu bekommen, als Walter sie hatte arbeiten lassen, um ihn zu bekommen. Welche andere Wahl hatte ich denn? (S.228f)
Hatte sie keine andere Wahl? Diese Frage hat sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang mit sich herumgetragen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie Angst hatte, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.
Landleben
Anfang Mai 1943 verlässt Rösli Näf nach fast zweijähriger Führung endgültig das Schloss und verabschiedet sich von Inge: „Ich bin sicher, du wirst überleben. Sei tapfer“.
Margrit Tännler mit Fahrrad, 1943
Quelle:https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1149545
Die neue Leiterin ist »Fräulein« (weil unverheiratet) Margrit Tännler, eine strenggläubige evangelische Christin. Sie liebt ihren Schützling Inge. Es waren nur noch wenige 17-jährige im Schloss und Inge musste sich um die kleineren Kinder kümmern. Obwohl sie nicht an eine erneute Flucht denken will, kommt diese Idee wieder verstärkt auf, als im Juni einige Jugendliche, die über die Pyrenäen nach Spanien fliehen wollen, von einem Führer verraten und daraufhin deportiert werden. Nur einer kann sich retten und überlebt den Krieg.
Margrit Tännler wird wenig später noch eine bedeutende Rolle für Inge spielen.
Das Leben in La Hille geht seinen Gang. Auch unter den Augen der deutschen Besatzer und der französischen Zivilverwaltung. Man hat sich fast eingerichtet im Klima der Unsicherheit und der Angst. Bei den regelmäßigen Razzien verschwinden die gefährdeten älteren Kinder und Jugendlichen im »Zwiebelkeller«. Ansonsten sind die Tage gefüllt mit dem Beschaffen von Lebensmitteln und der Organisation des Schulunterrichts für die Kinder unterschiedlicher Altersstufen. Die Älteren aber kennen nur einen Gedanken: Wie kommen wir von hier weg; über Spanien oder besser den Weg in die Schweiz nehmen?
Anfang August 1943 schlägt Margrit Tännler ihr vor, in der Nähe bei einem französischen Bauern unterzukommen, der das Vertrauen der Schweizer genießt. Da sie bald 18 Jahre alt wird eskaliert die Gefahr, von der französischen Polizei abgeholt zu werden. Inge willigt unter der Bedingung ein, dass sie allein und nicht in einer Gruppe dorthin gehen darf. So lebt sie zunächst als Hilfskraft bei einer französischen Bauernfamilie.
Eines Tages nimmt sie der Hausherr Edgar mit zu einem Fotografen, um Inge für ihren angeblich bevorstehenden »Schulabschluss« ablichten zu lassen.
Ungefähr zehn Tage später teilt Edgar ihr mit, dass Margrit Tännler sie unter konspirativen Umständen außerhalb des Hauses treffen wolle, um die Familie nicht zu gefährden.
Frau Tännler hat eine überraschende Neuigkeit für Inge: Am nächsten Morgen wird Edgar sie nach Toulouse bringen, von wo aus sie unter anderem Namen allein weiterreisen wird. Magrit:
„Ich weiß nicht, wohin du gehen wirst, aber ich werde es durch Edgar herausfinden. Schreib mir auf jeden Fall nicht und versuche nicht, mich in La Hille zu kontaktieren.“ Dann lächelte sie zum ersten Mal und nahm eine meiner Hände in ihre beiden. „Viel Glück, Inge. Du wirst es schaffen.“Ich war so gerührt von ihrer aufrichtigen Sorge um mich, dass ich nur mit dem Kopf nicken konnte. Als ich in mein vorübergehendes Zuhause zurückkehrte, teilte mir Edgar mit, dass wir am nächsten Morgen früh abreisen würden, und sagte mir, ich solle um 6.30 Uhr bereit sein. (S.233f)
Iréne
Am Bahnhof von Toulouse wird Inge von Edgar einem jüngeren Mann mit schwarzem Barett übergeben. Der junge Mann führt sie in ein nahegelegenes Haus, wo er ihr eine Carte d'Identité und eine Carte d'Alimentation, noch ohne Namen, aushändigt. Er rät ihr, sich einen Namen auszudenken, aber das Namenskürzel beizubehalten.
Nach ein paar Minuten beschlossen wir, mich Iréne Jerome zu nennen. Mein Geburtsdatum würde auf den 19. September 1926 geändert werden, damit ich siebzehn und nicht achtzehn wäre, um im Falle einer Verhaftung eine gewisse Milde zu erreichen.
„Sollten jemals Fragen zu Ihren Papieren gestellt werden, dürfen Sie unter keinen Umständen deren Quelle preisgeben. Viele Menschen könnten zu Schaden kommen. Ich muss jetzt gehen. Gehen Sie nicht an die Tür, wenn es klingelt. Und machen Sie sich keine Sorgen, wenn eine junge Frau in der Wohnung erscheint. Ich werde um elf Uhr zurück sein, denn Ihr Zug fährt noch vor Mittag.“ Damit war er zur Tür hinaus und ließ mich allein warten. (S.236)
Der junge Mann kommt mit ihren neuen Papieren zurück , darauf das Foto, das für ihren »Schulabschluss« gemacht wurde. Sie ist über den Zustand der Papiere enttäuscht, die alles andere als neu, sondern abgenutzt sind. Aber das war natürlich Absicht der Fälscher. Sie bekommt noch einen Umschlag, den sie ihrem neuen Kontakt, Anna, geben soll.
„Sie werden in Jarnac, einem Dorf nördlich von Bordeaux, aus dem Zug steigen. Anna wird Sie abholen. Sie ist etwa so groß wie Sie und hat langes braunes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt ist. Sie wird einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit einem gelben Seidenschal tragen. Von diesem Zeitpunkt an dürfen Sie mit niemandem mehr über Ihr früheres Leben sprechen. Sollten Fragen auftauchen, können Sie sagen, dass Sie bei Freunden Ihrer Familie in der Nähe von Toulouse gelebt haben. Nur Anna wird wissen, dass Sie unter falschem Namen und mit falschen Papieren dort sind, aber der Rest der Familie wird denken, dass Sie die neue Haushälterin der Familie sind. Sollte es im Zug zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten kommen, versuchen Sie zuerst, den Umschlag loszuwerden, denn er enthält Informationen, die wir nicht mit der Post verschicken können.“Dann gab er mir eine Fahrkarte und wir eilten zum Bahnhof von Toulouse. Einige Minuten nachdem ich in den Zug eingestiegen war, fuhr er ab. Die Fahrt sollte etwa sechs Stunden dauern. Als ich mich auf meinen Platz neben einer älteren Frau setzte, machte ich mir keine Sorgen mehr. Irgendwie hatte mich ein Gefühl des »Que sera, sera« überkommen. (S.237)
In Jarnac geschieht, was angekündigt wurde. Sie wird von Anna empfangen und zu ihrem Haus gebracht. Sie berichtet von sechs Schwestern (!). »Iréne«, so heißt Inge jetzt, ist als Haushaltshilfe im »Sommerhaus” der einst wohlhabenden Familie Rousseau angestellt.
Die Wochen vergehen, sie verrichtet zuverlässig die ihr aufgetragenen Arbeiten und ist bald ein normales Mitglied der Familie. Doch ihr 18. Geburtstag vergeht ohne Feier und es gibt keinen Kontakt mehr zu La Hille, geschweige denn zu Mutti oder ihrer Schwester Lilo in den USA. Sie hätte zu viel erklären müssen und hatte Angst, Verdacht zu erregen.
Im September 1943 ist das Kriegsende noch nicht abzusehen.
Inge fragt sich, ob sie für den Rest ihres Lebens in Jarnac untertauchen muss. Sollte das ihre Zukunft sein?
Die Verhältnisse ändern sich aber schneller, als sie zu hoffen wagt.
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