17 Juli, 2023

Inge Joseph #18: Neuer Anfang und Ende

 Aufbruch 1946

Im Frühjahr 1946 ist die Flucht von Inge Joseph Geschichte. Der Weltkrieg ist zu Ende, nun beginnt für sie ein neues, ein richtiges Leben.
Im Mai 1946, nach fast einem Jahr im Spital Zollikerberg, verlässt sie die Schweiz in Richtung USA, nachdem sie auf Initiative ihres Vaters und ihrer Schwester endlich ein Einreisevisum erhalten hat. Oma Josefine muss zurückbleiben. Aufgrund ihres Alters und ihrer Schwerhörigkeit erhält sie kein Einreisevisum.
Eigentlich sollte ihre Großmutter bereits Ende 1945 nach Italien abgeschoben werden, doch Inge intervenierte bei der offiziellen Stelle in Bern, schilderte das Schicksal ihrer Großmutter, woraufhin ihr Name von der Liste gestrichen wurde. Sie lebte bis zu ihrem Tod friedlich in der Schweiz.
Inge zieht aus ihrem Einsatz für ihre Großmutter eine persönliche Schlussfolgerung:
Ich hatte so gehandelt, wie ich mir wünschte, dass meine Verwandten Jahre zuvor für mich gehandelt hätten. Ich hatte das System herausgefordert, und mit genügend Entschlossenheit war ich siegreich. Das hatte nie jemand für mich getan, bis Rösli nach Le Vernet kam. (S.257)
Foto vom Besuch ihres Enkels Max Gerhard, geb. 1930; Cousin von Inge (Lugano 1951). 
Quelle: Stolpersteine in Darmstadt..., S.198
Max kam am 27.6.1939 mit einem Kindertransport nach England und wuchs dort auf. Sein Vater war Hermann Neu, seine Mutter Ida, die Schwester von Inges Mutter, kam bei der Brandnacht im September 1944 ums Leben.

Inge lässt sich vorerst in New York nieder, in der Nähe ihres Vaters.
Im Alter von einundzwanzig Jahren begann ich mit speziellen Highschool-Erweiterungskursen und absolvierte den gesamten Lehrplan in einem Jahr, wobei ich die Regents-Prüfungen in allen Fächern bestand, so dass ich die Voraussetzungen für ein Studium und eine Berufsausbildung erfüllen konnte. Ich hatte einige Stärken in Bereichen wie Fremdsprachen und Literatur, aber auch einige Schwächen, zu denen nicht zuletzt meine begrenzten Englischkenntnisse gehörten.
Ich mochte New York nicht. Abgesehen davon, dass die Stadt überfüllt und schmutzig war, erinnerte sie mich zu sehr an meine Zeit auf der Flucht. Als ich Papa wiedersah, allein und mittellos, wie er es acht Jahre zuvor in Brüssel gewesen war, wurde Muttis Abwesenheit nur noch deutlicher. Er arbeitete in einem einfachen Bürojob, den ihm einer seiner Verwandten besorgt hatte. Und er lebte mit einer Frau zusammen, die etwa in seinem Alter war und die er nicht heiraten wollte.
Und dann war da noch Gustav Wurzweiler, der, wie ich erwartet hatte, in einem schicken Haus an der East Side wohnte. Ich habe ihn und Loulou nur einmal gesehen, bei einem Abendessen in ihrer Wohnung mit Papa und einigen anderen Verwandten. Sie wollten nichts von meinen Erlebnissen nach ihrer Abreise aus Brüssel wissen, und ich hatte weder die Energie noch die Neigung, sie auf ihr Verhalten im Krieg anzusprechen.
 (S.258)
In N.Y. trifft sie auch ehemalige Bewohner von La Hille, unter anderem Walter Eppstein, der ihr berichtet, dass ihr geliebter Freund Walter Strauss in Auschwitz umgekommen ist.

Inge erwirbt das High School Diplom, zieht im späten Frühjahr 1947 nach Chicago, wo sie eine dreijährige Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und nach zwei Jahren Studium den Bachelor erwirbt. In den frühen 50er Jahren wird sie »maternity supervisor« an einem Krankenhaus in Chicago. 

Kein Wiedersehen
Gustav Wurzweiler, der Cousin ihres Vaters, einst erfolgreicher Bankier in Manhheim und später in New York und erste Aufnahmestation in Brüssel 1939 (siehe Inge #2), ruft sie 1953 an und bittet sie, sie möge zu ihm nach New York kommen, er leide an Krebs und würde für alles aufkommen, was sie brauche. Doch Inge lehnt ab. Die Brüsseler Zeit mit der überstürzten Flucht ihres Onkels, das Gefühl verraten worden zu sein, prägte noch immer ihre Erinnerungen. Deshalb lehnt sie auch ein Treffen ab und das nicht nur, weil sie zu beschäftigt ist. Gustav stirbt ein Jahr später an seiner Krebserkrankung und hinterlässt eine beträchtliche Summe für zwei Stiftungen in New York und Israel.
Im Dezember 1959 stirbt auch ihr Vater in Folge einer Herzattacke. Sie und Lilo kümmern sich um die Beerdigung. Der Tod des Vaters gibt ihr Anlass zur Reflektion:
Meine Beziehung zu Lilo war besser als die zu Papa. Aber auch zu ihr herrschte eine gewisse Schwere, eine Spannung, die wahrscheinlich auf meinen Groll über die Trennung im Krieg und das lange Schweigen in dieser Zeit zurückzuführen war. Ich erzählte ihr wenig von meinen Erlebnissen. Wenn sie sich nicht dafür interessierte, als sie geschahen, warum sollte sie es dann später tun?
  
 Meine befriedigendste familiäre Beziehung war die zu David, als er zu einem Teenager und einem jungen Berufstätigen heranwuchs. Er war warmherzig, sensibel und sehr intelligent - in gewisser Hinsicht wie Walter. Er schrieb gerne, und manchmal schmeichelte er mir, indem er mich um meine Meinung zu dem einen oder anderen Aufsatz bat, den er für die Schule geschrieben hatte. Er konnte auch ängstlich sein und zog es vor, sich mir anzuvertrauen, statt Lilo oder Lutz (seinem Vater), wenn es um Noten, schmerzhafte soziale Situationen oder die Bewerbung für das College ging. Was uns zusammenbrachte, war vor allem, dass er die gleiche Verachtung für Gruppen und Konformität empfand wie ich. Er war ein Einzelgänger.
 (S.260)
Noch ein Neustart
Im Februar 1955 heiratet sie Frank Bleier. Sie heißt jetzt Inge J. Bleier - J für Joseph!

Er war ein angenehmer Österreicher, nicht annähernd so arrogant wie viele Österreicher, die ich kenne. Er war in mancher Hinsicht wie Walter, er hatte einen guten Sinn für Humor, mit einem wunderbaren, tiefen Lachen, und er liebte Sportarten wie Tennis und Ping Pong. Als Ingenieur war er mathematisch und wissenschaftlich orientiert. Aber er war nicht so interessant, großzügig, charmant oder nachdenklich wie Walter. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Walter bereits verziehen. (S.261)
Was heißt das, „sie hatte Walter verziehen“? Erinnern wir uns an ihr Gespräch mit Elsbeth Kasser im Frühjahr 1943, die als eine der letzten Personen mit Walter gesprochen hatte, und Inge damals damals empört zur Kenntnis nehmen 
musste , dass Walter sich gegen den Versuch, ihn aus Gurs zu befreien, gewehrt hatte.  (siehe Inge Joseph #15).

Krisen
Das Familienleben gestaltet sich schwierig, sie erleidet zwei Fehlgeburten. Inge vermutet, dass die Unterernährung in Kindheit und Jugend ihren Körper innerlich so deformiert hat, dass an erfolgreiche Geburten nicht mehr zu denken ist. Nach der dritten Fehlgeburt adoptierte das Paar 1963 ein kleines Mädchen, Julie.


Obwohl sie in den folgenden Jahren beruflich großen Erfolg hat, zur Leiterin der Geburtshilfe im Memorial Hospital aufsteigt, ein Journalistik-Studium absolviert und in den 70er Jahren zwei Lehrbücher über Krankenpflege schreibt, eines davon sogar in deutscher Überestzung vorliegend, war sie nach eigener Aussage unausgeglichen, launisch und neigte zu Wutanfällen. Sie schreibt: „Mit der Zeit fing Frank an, mir auf die Nerven zu gehen.“ (S.263)

Die Vergangenheit ist nicht tot
Die Kriegsvergangenheit wird jedoch immer mehr zur verdrängten Vergangenheit, und so verliert sie den Kontakt zu de Schweizer Helferinnen und allen anderen.
Meine einzige Verbindung zu La Hille in jenen Jahren der 1960er und 1970er Jahre war Alix »Lixie« Grabkowicz, eine meiner Zimmergenossinnen, die geheiratet hatte und zu Lixie Kowler geworden war. Ich weiß nicht, warum ich mit ihr in Kontakt blieb, denn sie war nicht meine engste Freundin in La Hille. (S.262)
Mit Lixie spricht sie aber so gut wie nie über die gemeinsamen Erlebnisse im Exil. Ganz im Gegensatz zu Lixie selbst, die über die Jahre Kontakt zu ehemaligen Mitgefangenen hält. Inge versucht zunächst für sich selbst die Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie macht eine Zusatzausbildung zur Journalistin und schreibt ihre Erinnerungen auf. Doch es findet sich kein Verlag, der an einer Veröffentlichung interessiert ist.
Nachdem ich mein Tagebuch 1959 fertiggestellt hatte, reichte ich es bei einigen Verlagen ein. Die meisten schickten sie in dem beigefügten, selbst adressierten Umschlag zurück, zusammen mit einem formellen Ablehnungsschreiben. Aber ein Verleger, ich weiß nicht mehr, wer es war, schrieb mir sogar ein persönliches Ablehnungsschreiben, in dem er erklärte, dass die Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank mein Manuskript überflüssig gemacht habe. (S.262f)
Der Markt war gesättigt, muss man wohl resignierend konstatieren.

Erst 1993 erhielt Inges Neffe David E. Gumpert das Manuskript von Inges Tochter Julie. In den folgenden Jahren recherchierte er bei Überlebenden in Europa und veröffentlichte das Ergebnis 2004 in einem amerikanisch-englischen Verlag unter dem Titel: Inge. A Girl's Journey through Nazi Europe. Dieses Buch wurde zum Ausgangspunkt meiner eigenen Recherche (siehe Prolog). 


Die Vergangenheit - ein unbesiegbarer Feind 
Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen und holt Inge immer wieder ein.
Ich glaube, die schlimmste Zeit war für mich, als Julie [ihre Tochter, RW] in ihre Teenagerjahre kam, etwa ab 1978. Sie war so hübsch, mit ihrem dunklen Haar und ihrem strahlenden Lächeln, und sie war bei den Jungs beliebt. Als sie anfing, die Dinge zu tun, die Teenager so tun, wie Rockmusik zu spielen und auf Partys zu gehen, hatte ich Träume und Flashbacks. Ich hatte Albträume von Mutti und Walter in Konzentrationslagern, die versuchten, rauszukommen. Ich träumte von mir selbst in Le Vernet, wie ich versuchte, sie durch den Stacheldraht zu erreichen.
Fünf Jahre vergingen und brachten mich in meinen jetzigen erbärmlichen, drogengeschwängerten Zustand. Ich kann Ihnen nicht sagen, was passiert ist. Mein Körper zerfiel, Glied für Glied und Organ für Organ. (S.263)
Anfang der 80er Jahre wird Inge immer kränker. Sie leidet an Hautentzündungen, Nierenversagen, Verdauungsproblemen und geht schließlich als Patientin im Krankenhaus ein und aus. Verzweifelt beschimpft sie die Ärzte, die sie eigentlich heilen sollten. Inzwischen nimmt sie Schmerzmittel und Diätpillen, wird schließlich medikamentenabhängig und liegt die meiste Zeit im Bett. Auch ein drittes Buch über Krankenpflege schafft sie nicht mehr. Ihre Bilanz ist erschütternd:
Wie in Seyre, als ich mir Rotwein gönnte, spürte ich wieder meine Verbindung zu Papa - wir waren beide drogenabhängig. Es dauerte nicht lange, da lag ich tagelang im Bett, schlief immer wieder ein und jammerte und weinte um Mutti. In meinem drogenbedingten Nebel sah ich Dela, Inge H. und Manfred. (S.263)
Ich hasse es, das Foto von Walter, Haskelevich und mir anzusehen und daran zu denken, was hätte sein können. Ich versuche, das Gefühl einzufangen, das ich hatte, als ich dem deutschen Grenzkommandanten gegenüberstand. Wenn ich doch nur an diesen Abend im Januar 1943 zurückkehren und auf meine Hinrichtung warten könnte. Damals war ich bereit, die Strafe zu ertragen, ohne Angst. So möchte ich mich auch jetzt fühlen. Aber ich habe keine Kraft mehr. Es gibt keine Deutschen, gegen die ich mich wehren könnte. Nur mich selbst. Ich bin ein viel unangenehmerer Feind.(S.264)
Inge stirbt am 29. Juni 1983 in ihrem Stadthaus in Chicago an einer Überdosis Beruhigungsmittel. Sie wird keine 58 Jahre alt. Darmstadt sah sie nie wieder. 

Ruth Schütz, ihre Lebensretterin in Brüssel und enge Freundin in Frankreich, berichtet, dass sie eines Tages einen Anruf von Inges Neffen David E. Gumpert erhielt. In diesem Gespräch sagte er, dass seine Tante ihr Leben lang darunter gelitten habe, ihre Freunde im Stich gelassen zu haben. „Diese Schuld verfolgte sie ihr ganzes Leben lang und war die Ursache für ihren frühen Tod“.


Und so endet die Geschichte von Inge Joseph, dem jüdischen Mädchen aus Darmstadt, das den Holocaust überlebte, dennoch tragisch.

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