Inge Joseph
Das war die Geschichte von Inge Joseph. Geboren und aufgewachsn bis zum 13. Lebensjahr in Darmstadt, nach den Novemberpogromen 1938 in ein Kinderheim in Brüssel in Sichereit gebracht, vor den einmarschierenden Deutschen nach Südfrankreich geflohen und, nach mehreren vergeblichen Fluchtversuchen 1944 in der Schweiz aufgenommen, als junge Frau in der Schweiz zur Kinderkrankenschwester ausgebildet, später in den USA verheiratet und erfolgreiche Fachbuchautorin.
Zeitlebens litt sie unter den Krankheiten, die sie sich in den ersten Monaten des Exils in Südfrankreich zugezogen hatte, und nie ließ sie der Gedanke los, dass sie mitschuldig am Tod von drei ihrer Gefährten der ersten Flucht, Manfred Vos, Dela Hochberger und Inge Helft war, die, wie sie glaube, aus Rache deportiert worden waren, weil Inge den deutschen Verfolgern entkommen war.
Ihr Schicksal ist einzigartig und zugleich beispielhaft für das Leid, das jüdische Bürger unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ertragen mussten.
Ihre Überlebenskraft und ihr Wille, ihr Schicksal auch gegen größte Widerstände selbst in die Hände zu nehmen, können uns ein Vorbild sein.
Wie viele ähnliche Geschichten gibt es? Können wir jemals begreifen, was zwischen 1933 und 1945 geschehen ist?
Darmstadt, Ludwigplatz 9
Ich habe diese Arbeit Ende Februar 2023 begonnen, um das Schicksal von Inge Joseph zu erforschen - und die Arbeit an ihrer Geschichte hat mich verändert.
Stolpersteine, an denen ich heute vorbeikomme, sehe ich mit anderen Augen. Die sechs Stolpersteine der Familie Neu am Ludwigsplatz erinnern mich daran, dass nicht nur viele jüdische Bürgerinnen und Bürger Darmstadts ermordet wurden, sondern dass von den Überlebenden, die rechtzeitig emigrieren konnten, kaum jemad dauerhaft zurückgekehrt ist.
Ich sehe meine Stadt Darmstadt anders als vorher, als einen Ort schrecklicher Geschichte, die aber der schrecklichn Brandnacht von 1944 vorausging. Ich kann jetzt mehr anfangen mit den Ortsnamen der Deportationen, auch wenn da nicht Auschwitz oder Treblinka steht. Ich sehe jetzt hinter jedem Namen ein Schicksal und fühle jedes Mal Scham über das Geschehene.
Ich wünsche mir , dass es dem einen oder anderen Leser oder der einen oder anderen Leserin ähnlich geht.
Durch die monatelange Recherche der Lebensgeschichte von Inge Joseph habe ich auch viel Neues erfahren: Über die Verschickung gefährdeter jüdischer Kinder aus Deutschland nach England und Belgien, ausgelöst durch die Novemberpogrome 1938, über die Flucht dieser Kinder und ihrer Begleiter und Begleiterinnen nach Süfrankreich, über die prekären Lebensbedingungen im Süden, über die Hilfe von Schweizer Institutionen (und deren Hilfsverweigerung). Über die Kollaboration französischer Behörden mit der deutschen Vernichtungsmaschinerie, über die Ängste der Kinder vor der Deportation, über die katastrophalen Zustände in den französischen Internierungslagern und über den Mut der Kinder, sich nicht passiv ihrem Schicksal auszuliefern, sondern es selbst in die Hand zu nehmen.
Beeindruckt hat mich bei der Beschäftigung mit der Lebensgeschichte von Inge Joseph auch das mutige Engagement schweizerischer und französischer Widerstandskämpfer.
Viele, vor allem Frauen, fühlten sich entgegen der offiziellen Politik nur ihrem Gewissen verpflichtet, handelten ohne Rücksicht auf gegenwärtige oder zukünftige Karrieren menschenfreundlich und setzten sich unter Einsatz ihres Lebens für die verfolgten Kinder ein. Yad Vashem hat sie “Gerechte unter den Völkern” genannt und geehrt, damit sie und ihre Taten niemals vergessen werden.
Inge Josephs Neffe David E. Gumpert hat sie in einer Widmung in seinem Buch genannt:
To Rösli Naf, Maurice Dubois, Margrit Tännler, Anne Marie Im Hof-Piguet,
to save the children of Château la Hille.
and all the other Swiss Red Cross officials who risked their lives
Familie Cortier, Elsbeth Kasser, Eleonore Dubois, Elka und Alexander Frank, Renée Farny.
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Wenn Sie Fragen oder Anregungen haben oder Kritik äußern wollen, schreiben Sie mir: r.wadel@web.de
Darmstadt, Frühjahr 2023
überarbeitet: März 2024
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