17 Juli, 2023

Inge Joseph #8: 1942 - Dramatische Wende

Im Schloss La Hille hat man sich eingerichtet. Der Alltag ist strukturiert und organisiert. Eine gewisse Normalität ist im Unnormalen des Exils eingetreten. Inge wird in diesem Jahr 17.

Was wird das Jahr 1942 bringen?
Vorne von links:: Almuth Königshöfer, Else Rosenblatt, Dela Hochberger, Lixie (Alix) Grabkowicz, Inge Helft, Edith Moser. 2. Reihe kniend, von links: Ilse Wulff, Margot Kern und vermutlich Martha Storosum. Hintere Reihe von links: Inge Joseph, Ruth Schütz, Friedl Steinberg, Ruth Herz, Edith Goldapper, unbekannt, Ruth Klonower, Helga Klein, Inge Schragenheim, Irène Frank, Ilse Brünell, Rita Leistner.
 
Das Deutsche Reich erreicht im Laufe des Jahres seine größte Ausdehnung und kontrolliert fast den gesamten europäischen Teil der Sowjetunion. Dennoch könnte man in La Hille die weitere Entwicklung in Ruhe abwarten, denn nach der Kriegserklärung Deutschlands an die USA scheint ein Ende des Krieges absehbar.
Doch die nationalsozialistischen Machthaber verschärfen ihren antisemitischen Kurs. Am 20. Januar 1942 treffen sich in einer Villa am Berliner Wannsee Vertreter der höchsten Behörden und Organisationen des Deutschen Reichs, um zu besprechen, was andernorts längst beschlossen ist: die vollständige Vernichtung aller Juden Europas durch Arbeit oder Mord und wie dies zu organisieren sei.
In La Hille und außerhalb der deutschen Staatsführung erfährt man vorerst nichts davon.


Alltagsnöte
Im Winter 1941/1942 taucht in La Hille ein altes Problem wieder auf: Es fehlt an winterfester Kleidung und an Vitaminen mangels Gemüse und Obst, was wiederum zu Furunkeln und Karbunkeln bei den Kindern führt. In der Heimleitung eskaliert der Konflikt zwischen dem bisherigen Leiter Alexander Frank und Rösli Näf. Rösli hatte sich immer mehr Kompetenzen angeeignet, sie war schließlich die Vertreterin des Trägers des Heims, des Schweizerischen Roten Kreuzes, und Alex hatte weniger zu tun, da seine Hauptaufgaben, wie z.B. das Besorgen von Holz für die Heizung, weitgehend erledigt waren. Gleichzeitig muss er sich um seine kranke Frau und seine Mutter kümmern, die mit ihm im Schloss lebt. Es kursieren Gerüchte, dass Alex Lebensmittel unterschlagen und sich gegenüber Mädchen unsittlich verhalten habe. Inge kann das nicht bestätigen. 
Alex verlässt mit seiner Frau im Januar 1942 das Schloss und flieht über Spanien nach Portugal. Von dort wird er nach Großbritannien übersiedeln.
 
Was Inge nicht weiß: Am 24. März 1942 erfolgte der erste große Transport Darmstädter Juden in das Ghetto Piaski im Distrikt Lublin. Von dort ging es dann weiter nach Theresienstadt, in das Arbeitslager Trawniki oder direkt in das Vernichtungslager Belzec.
In diesem Transport waren ihre Mutter und ihre Tante Martha Löb der Mutter ihrer Cosine Hilde. Es gab noch einen kurzen Brief von Mutti aus Piaski. Danach hat se nichts mehr von ihr gehört. 
(Mehr Info zu diesem Transport siehe meine Seite: Inge Joseph: Heute vor 81 Jahren und hier: Piaski - Piaski?)


Inges Mutter: Joseph, geb. Neu

Letzter Brief
In einem Brief von Inge an ihre Schwester Lilo vom 7. April 1942 beklagt sich Inge, dass sie seit November keine Post mehr von ihr oder ihrem Vater erhalten habe und ihr jede Information über das Leben ihrer Mutter in Deutschland fehle. Gleichzeitig gratuliert sie ihrer Schwester zur Hochzeit und erinnert sich an die gemeinsame Kindheit in Darmstadt.  
Von ihrem eigenen Wunsch, in die USA auszuwandern, ist nicht mehr die Rede. Hat sie die Hoffnung aufgegeben, ihre Familie jemals wiederzusehen?
Das ist der letzte digitalisiert vorliegende Brief. Er ist auf Leonore Gumpert correspondence im Original zugänglich.
Inge schreibt S.147, dass der Brief einige Wochen später zurückgekommen sei mit dem Vermerk: Keine Nachsende-Adresse/Nicht zustellbar! Das kann aber eigentlich nicht sein, denn Inge hatte in Frankreich keine Briefe aufbewahren können. Sie wäre bei ihrer Flucht sofort ausgeflogen! Der Brief ist aber (s.o.) erhalten.


Terror
Zunehmend kommen schlechte Nachrichten aus der Heimat.
Doch so wunderbar friedlich unser Dasein nach außen hin auch erschien, so sehr erinnerte uns die Mittagszeit daran, dass die Welt außerhalb unserer Mauern immer schlechter wurde. Unsere Mittagsmahlzeit wurde immer angespannter, denn dann kam die Post, die von einem französischen Briefträger auf dem Fahrrad zugestellt wurde. Immer öfter erhielt das eine oder andere Kind schlechte Nachrichten von einem Verwandten oder Briefe, die an die Eltern adressiert waren, kamen mit dem Vermerk zurück: Ohne Nachsendeadresse verschwunden. (S.148)
Auch im übrigen Europa spitzt sich die Lage zu.
16. Juli 1942: Erste Großrazzien in der Besatzungszone und in Paris
August: Erste Deportationen aus Frankreich nach Auschwitz
13. August 1942: Die Schweizer Grenze wird für Juden geschlossen. Juden werden nicht als politische Flüchtlinge anerkannt. Das Boot ist voll”, heißt es in der Schweiz.
26.8.: Beginn der großen Razzien in der „freien“ Zone Frankreichs
Nach französischem Gesetz sind Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren geschützt, danach müssen sie mit der Deportation nach Deutschland, d.h. in ein Konzentrationslager, rechnen. Inge wird bald 17 und spürt: „Countdown will begin“ (S.150), denn die Signale sind überdeutlich.

Alle paar Wochen kommt ein französischer Polizist, Lieutenant Danielle, um zu kontrollieren, ob die Jugendlichen das 18. Lebensjahr vollendet haben. Rösli hält ihn immer wieder hin, immer wieder verschwinden Jugendliche, die die Altersgrenze erreicht haben. Der Polizist will Listen mit Namen und Geburtsdaten, Rösli will nur mündlich Auskunft geben, was ihn immer wütender macht. Inge schreibt:
Als sich der Sommer hinzog, hatte ich zunehmend Visionen von einem von Deutschland kontrollierten Europa. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich in eine solche Welt passen würde. Ich hatte von Konzentrationslagern gehört. Aber sechzehn Jahre alt zu sein, war mein Schutzschild gewesen. Ab August 1942 war niemand mehr unter achtzehn Jahren verhaftet worden.
[...]
Hans Garfunkel teilte meine Besorgnis. Vielleicht war sein Instinkt sogar noch ausgeprägter, als er Fetzen von zunehmend beängstigenden BBC-Berichten aufschnappte. Juden wurden in verschiedenen Teilen Frankreichs, darunter auch in Paris, zusammengetrieben. Er konnte jedoch nicht feststellen, ob die Franzosen noch die Rechte der Kinder respektierten, ob bei den Razzien unterschieden wurde , ob die Kinder unter achtzehn Jahren waren oder nicht.  (S.151) 
Einige Jungen beginnen, außerhalb des Schlosses zu übernachten, um vor der französischen Polizei in Sicherheit zu sein. Sie verstecken auch Lebensmittel im Wald. Andere, wie Walter, teilen diese Befürchtungen nicht. Walter kann sie überzeugen, dass das nicht nötig ist.
„Hans ist auch in den besten Zeiten ein Grübler“, sagte Walter. „Ich habe ihnen gesagt, dass die Polizei Kinder auf dem Lande nicht belästigt. Was für ein Interesse könnten sie daran haben, uns zu verhaften? Der Vorschlag von Hans scheint mir so aussichtslos, und wir haben im Moment keinen Grund für verzweifelte Maßnahmen. Außerdem, schau dir meinen Bruder an. Wie viel besser geht es uns, wenn das Schweizerische Rote Kreuz uns beschützt?“ (S.151)
Die Kraft von Walters Argumenten und seiner Persönlichkeit überzeugt viele, Hans' Pläne aufzugeben und im Schloss zu bleiben. Auch Inge beugt sich Walters Meinung, ist aber nicht wirklich überzeugt. „Ich wollte Walter so gerne glauben, aber es fiel mir schwer.“  (S.151)

Ende August kommt ein junges Mädchen aus Paris auf das Schloss. Sie wird nach der Situation in Paris befragt und berichtet, dass jüdische Familien mit Kindern jeden Alters von der französischen Polizei verhaftet werden.
Eine Welle der Übelkeit durchzog meinen Körper und erinnerte mich an den Morgen in Brüssel vor mehr als zwei Jahren, als Frau Schlesinger uns mitteilte, dass die Deutschen angreifen würden. Unser Schutzschild begann zu bröckeln. Wie sehr, das sollten wir am nächsten Tag, dem 25. August, erfahren. (S.152)
Und dieser Tag wird ein Alptraum für alle werden.

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