Piaski - Piaski?

 


Kürzlich habe ich ein Buch mit Erzählungen von Anna Seghers (1900-1983) gelesen*. Die Autorin ist keine Unbekannte. Sie schrieb unter anderem den Roman "Das siebte Kreuz" , ein Buch über die Flucht von sieben Häftlingen aus “Westhofen” bei Worms, ein Roman, der wohl in unzähligen deutschen Schulen behandelt wurde.

Kurz nach seiner Veröffentlichung 1944 wurde erin den USA verfilmt mit Spencer Tracy in der Hauptrolle .


In der Erzählsammlung Der Ausflug der toten Mädchen gibt es eine verstörende Geschichte aus dem Jahr 1945, Das Ende, in der es um einen gewissen Zillich geht, einen ehemaligen SS-Mann, der unter anderem Aufseher im Lager Piaski war, das im sogenannten Generalgouvernement lag, dem von Hitler-Deutschland besetzten Teil Polens, der aber nicht zum Deutschen Reich gehörte.

Kurz nach der deutschen Kapitulation irrt Zillich ruhelos durch Süddeutschland, durch ein Gebiet, das unschwer als Rhein-Main-Gebiet zu erkennen ist, immer in der Angst, entdeckt und verhaftet zu werden.


Piaski, Piaski? Da klickt es bei mir. War das nicht der Ort, wohin Inge Josephs Mutter Clara Joseph und ihre Tante Martha Löb, die Schwester von Inges Mutter, im März 1942 deportiert wurden?


Ich habe daraufhin ein wenig recherchiert ...


*Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen. Aufbau Verlag, Berlin 18. Auflage 2017.

Piaski


Die polnische Kleinstadt Piaski zählte in den 1920er Jahren etwa 4.000 Menschen, über die Hälfte davon waren Juden. Zu Kriegsbeginn lebte man im Osten Polens überwiegend in ärmlich-ländlichen Verhältnissen. Die dortigen Holzbauten hatten weder fließendes Wasser, noch gab es eine Kanalisation. Die jüdische Bevölkerung war hauptsächlich in Handel und Handwerk tätig, wohnte aber weitgehend abgetrennt im eigenen Viertel, im Schtetl.

Abschiebebefehl der Gestapo

 

Mitte März 1942 ging an alle Darmstädter Familien mit jüdischen Angehörigen unter 65 Jahren - insgesamt waren 164 Personen betroffen - die Anordnung zur Abschiebung an einen nicht benannten Ort:


Geheime Staatspolizei     Geheim! 

Staatspolizeidienststelle Darmstadt 


Darmstadt, den 18. März 1942 

Geheime Staatspolizei 

Staatspolizeistelle Darmstadt 

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.

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Gez. Dr. Achemer-Pifrader 

Standartenführer und Ober-Reg. Rat                                                    

Link zum Original-Reprint:


Startpunkt für den Transport mit Zug Da 14 war die Justus-Liebig-Schule in Darmstadt. Dort wurden die Deportierten zwei Tage verwahrt, dann ging es auf die Reise in den Osten. An den Zug angehängt waren Wagen mit Nähmaschinen und allerlei Werkzeug, es sollte ja in ein Arbeitslager gehen. Der Zug benötigte drei Tage für die 1400 km lange Fahrt bis zur Bahnstation Trawniki; dann ging es auf einem 12 km langen Fußmarsch nach Piaski.  

Von dort fuhren die Züge wieder mit Arbeitssklaven zurück “ins “Reich”

https://collections.yadvashem.org/de/deportations/5604917 

Juden in Piaski 

In Piaski lebten seit Juni 1940 auch jüdische Einwohner, die aus Pommern und ab Juni 1941 aus dem Generalgouvernement hierher deportiert worden waren. Der erste Transport mit Juden kam bereits im Februar 1940 aus Stettin und wurde auf mehrere Dörfer, darunter auch Piaski, verteilt. Ab Juni 1941 gab es dann ein offenes Ghetto in Piaski für die jüdische Bevölkerung. Es gibt einige Briefe aus dem Ghetto über die unhaltbaren Zustände, die entstanden, weil die neu angekommenen Juden einfach auf die vorhandenen ärmlichen Wohnungen der einheimischen Juden verteilt wurden. Vieles davon ist in dem Buch “Lebenszeichen aus Piaski” (siehe Anhang unten) dokumentiert.


Die Situation verschärfte sich, als im Zuge der Aktion Reinhardt ab März 1942 Juden aus ganz Deutschland nach Piaski und in andere Orte des Distrikts Lublin deportiert wurden.

Quelle: Lebenszeichen aus Piaski, S.76


Gleich nach der Ankunft wurde den eingelieferten "Reichsjuden" klar, dass der angebliche Transport zum Arbeitseinsatz eine bewusste Täuschung war. Piaski und die anderen Deportationsorte dienten als "Durchgangslager", von denen aus die "Reichsjuden" zur Zwangsarbeit verpflichtet oder direkt in den Tod in die nahe gelegenen Vernichtungslager Bełżec und Sobibor geschickt werden sollten. Die deportierten Juden standen in der Warteschleife, bis wieder Platz in den Vernichtungslagern war und wurden in die Vernichtung geschickt, wenn neue Menschentransporte angekündigt wurden. Für die deutsche Verwaltung und die SS war das alles nur eine Frage der Organisation, d.h. der Abstimmung von Vernichtungs- und Transportkapazitäten. Nur arbeitsfähige Juden und Jüdinnen konnten sich diesem Prozess für eine Übergangszeit entziehen.


In einem Aktenvermerk des Referenten Fritz Reuter in der Unterabteilung für Bevölkerungswesen und Fürsorge in der Distrikt-Verwaltung Lublin vom 17. März 1942 heißt es:  

„Abschließend erklärte er [SS-Hauptsturmführer Höfle, Stabschef der Vernichtungsaktion „Reinhard"], er könne täglich 4-5 Transporte zu 1000 Juden mit der Zielstation Bełżec aufnehmen. Diese Juden kämen über die Grenze und würden nie mehr ins Generalgouvernement zurückkommen.” 

https://collections.yadvashem.org/en/documents/3656575  Dokument S.23


Hermann Julius Höfle, war im NS-Staat als SS-Sturmbannführer und Leiter der Hauptabteilung „Aktion Reinhardt“ zuständig für die Koordinierung dieser Aktion mit der Zivilverwaltung des Generalgouvernements. Er gehörte zu den eher unbekannten, jedoch maßgeblichen Technokraten für die sogenannte Endlösung, den millionenfachen Judenmord. 

Kurz vor Beginn eines Prozesses gegen ihn erhängte er sich am 21. August 1962 in einem Wiener Gefängnis.

In seinen Memoiren Mein Leben berichtet Marcel Reich-Ranitzki, der in Warschau für Höfle eine kurze Zeit als Übersetzer arbeiten musste, von einer Begegnung mit Hermann Höfle, "dem Leiter der allgemein als »Ausrottungskommando« genannten Hauptabteilung Reinhard" im Juni 1942. Höfle drohte mit der Erhängung des gesamten Judenrates, sollte man seinen Anweisungen nicht sofort Folge leisten. Reich-Ranitzki: "Schon das (übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der Primitivität und Vulgarität dieses SS-Offiziers." (S.236)


Quelle: USHMM: Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945; S.610


Die “Transport-Aktion” ist erfolgreich im Sinne der SS:


Datum unbekannt - (verm. März 1942)

Regierung des Generalgouvernements

Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge


Es erscheint heute der  SS-Obersturmführer P o h l und teilt über den Stand der Juden-Umsiedlungsaktion Folgendes mit:


1) aus Piaski 3 400 Juden heraus;

2 000 Reichsjuden kamen hinein

1 000 Reichsjuden werden erwartet.


 [...]

Unterabteilungsleiter 

Türk*

https://collections.yadvashem.org/en/documents/3656575  Dokument S.36

"Heraus” hieß: Abtransport in die Vernichtungslager Bełżec oder Sobibor. Anfang März 1942 war der Bau des Vernichtungslagers Bełżec abgeschlossen worden.

SS-Hauptsturmführer Richard Türk, ein engagierter Antisemit, Polen-, Sinti- und Romahasser, überlebte den 2. Weltkrieg, ohne für seine Taten verurteilt worden zu sein und starb 1984.

Leben in Piaski

Die Lebensbedingungen in Piaski waren schrecklich. Der Berliner Hermann Samter (geboren am 5. Dezember 1909 in Berlin, ermordet in Auschwitz), schildert in eine Brief vom 11. Mai 1942: „ [...] Hier lebten seit zwei Jahren Stettiner [...] Hier herrscht der größte Schmutz und fürchterliche Not. Die Leute schrieben noch nach Wochen, dass sie noch nicht aus den Kleidern gekommen wären. Tagesration: 50 g Brot, ½ l Kaffee, ¾ l Suppe (ohne Fett). Wer hier also nicht in die Arbeit kommt und dadurch mehr erhält, ist verloren. Kranke und alte Leute sind dem Hungertode preisgegeben!

[...]“. Die wenigen sanitären Anlagen des Ghettos waren in einem katastrophalen Zustand, die Grundversorgung mit Nahrung und Trinkwasser absolut unzureichend. Das Ghetto, bestehend aus kleinen, hauptsächlich eingeschossigen Holzhäusern, war nicht für 5.000 Bewohner ausgerichtet. Zwischen 10 und 20 Personen mussten sich in der Regel einen Wohnraum teilen. Mit der einheimischen Bevölkerung gab es sprachliche Probleme, soziale Brennpunkte zwischen den polnischen Ghettobewohnern und den aus Deutschland kommenden waren vorprogrammiert.

Ende Mai 1942 wurde den Bewohnern der Transitghettos der Briefverkehr außerhalb des Lubliner Bezirkes untersagt. 

Aus: Orte der Verfolgung: Deportationsziele und Todesorte


Zusätzlich zu den unsäglichen Lebensbedingungen wurden die eintreffenden deutschen Juden auch ihrer wenigen Habseligkeiten beraubt, wie ein offizielles Schreiben vom April 1942 belegt.


An den Kommandeur der Sipo in Lublin


Als Anlage überreiche ich zwei Aufstellungen über Waren, die aus dem Ghetto in Piaski sichergestellt worden sind.Während die von den hessischen Juden zurückgenommenen Sachen z.T. neuwertig sind, handelt es sich bei den übrigen Spinnstoffwaren um ältere und schmutzige Ware für die Zerreißmaschine. Die Wäschestücke der hessischen Juden sind

in Koffern verpackt. Ferner wurde bis heute ein Betrag von zl. 8300 (z.T. in Reichsmark), Goldrubel 85.- sowie 5 Eheringe sichergestellt.

Da die Lagerplätze anderweitig dringend benötigt werden, bitte ich um baldige Abholung.


Sicherheitspolizei Transferstelle Piaski

11. April 1942

Auflösung

Im ersten Darmstädter Transport nach Piaski vom 25. März 1942 befanden sich unter den 1000 hessischen Juden und Jüdinnen auch 450 aus Mainz. Zu ihnen gehörte mit der Transportnummer 

856 Reiling, geb. Fuld; Hedwig S. geb. 21.2.1880 in Frankfurt. 

(S für Sara, wie es ein  Nazigesetz verlangte; I stand für “Israel” und war Vorschrift bei jüdischen Männernamen.)

Quelle:https://www.statistik-des-holocaust.de/OT420324-46.jpg 


Hedwig Reiling war die Mutter von Anna Seghers, Seghers war das Pseudonym für »Annette „Netty“ Reiling«. Inge Josephs Mutter und die Mutter von Anna Seghers waren also Leidensgenossinnen: Im selben Zug, im selben Internierungslager und mit demselben Schicksal - sie überlebten wie viele andere das Ghetto nicht. Anna Seghers berichtet im Januar 1945, sie war noch im Exil in Mexiko, dass sie gehört habe, ihre Mutter sei in ein KZ in Polen abtransportiert worden und dort vermutlich gestorben. Ebenfalls im Deportationszug: Johanna Sichel, die frühere Lehrerin von Netty Reiling.


Anna Seghers hat also die Geschichte eines fiktiven Nazis verarbeitet, der der Peiniger ihrer Mutter und ihrer Lehrerin hätte sein können und damit der Peiniger von Clara Joseph, deren Schwester Martha Löb und Tausenden anderer Jüdinnen und Juden, die von 1941 bis Ende 1942 nach Piaski und in den Distrikt Lublin deportiert wurden und dort spurlos verschwanden. Gestorben an Auszehrung, Seuchen und nicht zuletzt ermordet in den Vernichtungslagern Bełżec und Sobibor.

Requiem

Das Ghetto Piaski wurde im November 1942 aufgelöst; bis dahin waren alle Bewohner entweder in die Vernichtungslager Bełżec und Sobibor oder, sofern sie arbeitsfähig waren, in das im Juli 1941 eingerichtete Arbeitslager Trawniki deportiert worden. Da Anna Seghers' Mutter Hedwig Reiling bei ihrer Ankunft in Piaski bereits 62 Jahre alt war, wird sie unter den schrecklichen Bedingungen in Piaski kaum bis Ende November 1942 überlebt haben. Inges Mutter Clara war 10 Jahre jünger und wurde wahrscheinlich in das Arbeitslager Trawniki gebracht. Dieses Lager wurde am 3. November 1943 aufgelöst, alle Zwangsarbeiter wurden ermordet. Dies dürfte also das späteste Todesdatum von Clara Joseph sein. Genauere Angaben sind nicht möglich. Seit Mai 1942 war es verboten Briefe ins "Reich" zu schreiben - man fürchtete dort Widerstandmaßnahmen wenn bekannt würde, was mit den Menschen in den Durchgangslagern geschah. Lediglich streng kontrollierte Kurznachrichten über das DRK waren möglich.


In einem Brief von Inge Joseph (ohne Datum) heißt es:

Anfang Dezember [1942] erhielt ich einen kryptischen Brief mit fünfundzwanzig Wörtern von Mutti aus dem Konzentrationslager Piaski in Polen, der über das Rote Kreuz weitergeleitet wurde.  Darin bat sie mich, Papa zu benachrichtigen, dass er ihr Lebensmittel und Kleidung schickt. Ich leitete die Nachricht an Papa in den Vereinigten Staaten weiter.

Und schließlich: 

19.5.1943

“Dear All

“Have received post from Warsaw that Mutti is not longer in the camp at the old address. Her new address is unobtainable.” 


Im Juli 1943 fragt sie in einem Brief an ihre Tante Ida in Darmstadt: 

“Ist Auschwitz in Schlesien? 

Eine Antwort ist nicht überliefert, auch nicht der Anlass der Frage. Danach kommt nichts mehr aus La Hille.


Bis 1943 gab es noch weitere Transporte Darmstädter Jüdinnen und Juden in den Osten.  


27.9.1942 2 Transporte; 1288, meist ältere Juden aus Hessen, nach Theresienstadt

30.9.1942 nach Auschwitz o. Treblinka; 883 Deportierte

10.2.1943 Letzter Transport (53) nach Theresienstadt

13.5.1943 Einzelverschickung nach Auschwitz


Nur wenige überlebten, darunter Josefine Neu, Inges Großmutter, die seit September 1942 in Theresienstadt war und 1945 mit Hilfe von Schweizer und amerikanischen Helfern zusammen mit 1200 anderen Juden buchstäblich “freigekauft” wurde. Es war ein letzter Deal von Heinrich Himmler, der angesichts der drohenden totalen Niederlage seinen Kopf retten (und ein ordentliches Sümmchen einstreichen) wollte.  



Inge Joseph - Clara Joseph - Hedwig Reiling - Anna Seghers. 

Piaski? Piaski!

Anhang: Hinweise/Quellen  

Aufgenommen wurden nur Quellen, die für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema zentral sind:


Yad Vashem Archives M.49D [ZIH]/264

Transport, Zug Da 14 von Darmstadt, Darmstadt (Hessen), Deutsches Reich nach Piaski Luterskie, Ghetto, Polen am 24/03/1942

https://collections.yadvashem.org/de/deportations/5604917


USHMM: Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945

https://www.ushmm.org/research/publications/encyclopedia-camps-ghettos  

(Alle Texte zum Download!)


Hess, Renate (Bearb.): Juden-Deportationen aus Darmstadt 1942/43 : die damalige Liebig-Schule als Sammellager 1942. 1. Neuauflage. Darmstadt : Justus-Liebig-Schule, 2008.


Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940-1943. Herausgegeben von Else Behrend-Rosenfeld und Gertrud Luckner. Ungekürzte Ausgabe, dtv: München 1970. 


Wagner, Frank: Deportation nach Piaski. Letzte Stationen der Passion von Hedwig Reiling.

In: Argonautenschiff. 3 (1994), ISSN 1430-9211, S. 117–126.  

Der Ausflug der toten Mädchen

Rezensionen/Besprechungen

Arbeitsstelle Holocaust Literatur: Der Ausflug der toten Mädchen (1946): 

https://www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de/wiki/Der_Ausflug_der_toten_M%C3%A4dchen_(1946) 

Ergänzungen zu A.Seghers Erzählsammlung

https://anna-seghers.de/zwei-schulkameradinnen/

Anna-Seghers-Museum Berlin:

https://www.adk.de/de/archiv/museen/anna-seghers-museum/index.htm

Öffnungszeiten

Dienstags und donnerstags 10-16 Uhr (außer an Feiertagen).




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