Sabine und ich machen im Juni 2025 einige Tage „Urlaub” im französischen Jura (Franche-Comté). Wir wohnen in einem kleinen Chalet in Métabief, ca. 80 km südöstlich von Besançon.
Einer der Gründe für die Wahl der Region war mein Wunsch, mir den Fluchtweg anzuschauen, den einige jüdische Jugendliche aus dem Château de La Hille im Laufe des Jahres 1943 mit französischer und schweizerischer Hilfe auf sich genommen haben. Unter ihnen war Inge Joseph, über deren Flucht ich hier und hier berichtet habe. Dabei gab es für mich einige Unklarheiten in den Berichten, die ich gerne klären wollte.
Métabief
Vor Ort stellt sich die Wahl unseres Urlaubsortes als zwiespältig heraus. Einerseits ist Métabief, das auf ca. 1.000 m Höhe liegt, ein typischer, moderner Hotspot für Wintersportler ohne ursprüngliche Atmosphäre. Der Ort ist mit unzähligen Chalets und Ferienwohnungen bebaut und hat kein eigentliches Zentrum. Im Sommer wandelt sich der Ort zu einem Hotspot für Mountainbiker. Für sie wurde ein ganzer Hang am Hausberg Morond reserviert, indem zahlreiche Trails angelegt und der Skilift so umgebaut wurde, dass Mountainbiker mit ihren Rädern problemlos auf den Gipfel gelangen und von dort downhill ins Tal brettern können. Das hat den sicher erwünschten Nebeneffekt, dass Wanderer weitgehend unbehelligt von den Bikern ihre Touren machen können. Als Startpunkt für Wanderungen in der Region des Jura hat der Ort aber auch seine Qualität.
Wir haben einige schöne Wanderungen in der Umgebung unternommen und unter anderem den Mont d’Or erstiegen. Wir waren immer wieder erstaunt über die Pflanzenvielfalt der Hochmoore und Feuchtwiesen sowie beeindruckt vom Ausmaß des Kalkgebirges. Es war eine wunderschöne Landschaft, in der wir weitgehend unbehelligt von den Bikern unsere Touren machen konnten.
Nur selten kreuzten andere Lebewesen unseren Weg.
Auf Inges Spuren
Am dritten Tag unseres Aufenthalts fahren wir nach Chapelle-des-Bois, ein kleiner Ort in der Nähe der Französisch-Schweizer Grenze. Von hier aus gelang Inge Joseph und anderen 1943 die Flucht aus dem besetzten Land in die freie Schweiz. (Wer die Flucht organisierte und wie es gelang, verfolgte jüdische Kinder und Jugendliche in die Schweiz zu bringen, können Sie auf den oben verlinkten Seiten nachlesen.)
Damals führte der Weg direkt vom Haus der Cordiers (Zur Familie der Cordier siehe unten!) über eine Wiese und einen befestigten Waldweg zum Gy de l'Echelle, einem steilen Pfad hinauf zur Hochebene des Risoux (schweizerisch: Risoud). Der Pfad wurde in früheren Zeiten von Schmugglern und Einheimischen angelegt, die auf kurzem und unkontrolliertem Weg die Landesgrenze überwinden wollten, ohne dabei vom Grenzschutz oder von der Polizei überrascht zu werden. Ab Herbst 1943 diente er dann als Fluchtweg für Gegner und Verfolgte des Nazi-Regimes, darunter auch Jugendliche, denen die Deportation nach Auschwitz drohte.
Heute ist der Zugang zu diesem steilen Pfad nicht mehr ausgeschildert, da die Begehung zu gefährlich ist. Mehrmals im Jahr findet allerdings eine organisierte Begehung statt, bei der der Pfad vorher mit Halteseilen gesichert wird.
Wir wählten den von Komoot vorgeschlagenen Weg Grand Route 5. Er führt etwas weiter nordöstlich von Chapelle-des-Bois aus über eine blühende Feuchtwiese (in der Karte oben blau markiert) in vielen Serpentinen und steilen Passagen auf die Hochebene.
Hier hinauf geht’s!
Der Aufstieg durch den dichten Wald war kaum weniger anspruchsvoll als der ursprüngliche Weg über den Gy de L’Echelle. Wir waren froh, als wir die etwa 200 Meter Höhenunterschied bewältigt hatten und auf der Hochebene ankamen.
Der Weg führte uns dann durch einen lichten Mischwald, parallel zur nahegelegenen Schweizer Grenze. Wir gingen am Roche Champion vorbei, von wo aus wir das Foto gemacht haben, auf dem das Haus der Familie Cordier am Fuß der steilen Felswand zu sehen ist.
Hôtel d'Italie
Bevor wir den Endpunkt des Aufstiegs über den Gy de l’Echelle erreichen, verlassen wir den Wanderweg und gelangen nach wenigen Metern zu einer befestigten Forststraße, die, wie auch Inge Joseph und Edith Goldapper (s.u.) schreiben, bereits in der Schweiz liegt. Auf dieser nicht asphaltierten Straße gelangen wir nach ca. einem Kilometer endlich an die Stelle, an der die geflohenen Jugendlichen ihre Schweizer Kontaktperson treffen konnten: die Hütte „Hôtel d'Italie“, die nach den italienischen Waldarbeitern benannt wurde, für die sie einst gebaut wurde.
L'Hôtel d'Italie - eine kleine Waldhütte, geöffnet für jedermann. Ausgestattet mit dem Nötigsten, um ein Gewitter zu überdauern oder gar eine Nacht zu verbringen. Gemütlich, sauber - schweizerisch eben. Gleichzeitig eine Hütte mit einer bemerkenswerten Geschichte als Übergangspunkt für jüdische Kinder und andere, die dem Naziterror entkommen wollten.
Allerdings war die Flucht hier noch nicht zu Ende. Die Kinder und Jugendlichen mussten möglichst schnell ins Innere der Schweiz gebracht werden. Erst dort waren sie wirklich sicher. Hätte die Polizei sie im Grenzgebiet gefasst, wären sie direkt wieder der französischen Polizei übergeben worden, die sie wiederum den Nazis ausgeliefert hätte.
Grenzüberschreitung
Eine Gedenkwand erinnert an die Geschichte der Flucht über den Risoux und verzeichnet auch Namen der geflüchteten Jugendlichen.
Auch Inges Name findet sich dort (oben links):
Es ist ein Ort des Gedenkens und der Erinnerung an die Geschichte Inge Josephs und an die vielen schrecklichen Ereignisse, über die ich seit Beginn meiner Recherchen vor zwei Jahren in Büchern und Dokumenten gelesen habe.
Wir werfen noch einen letzten Blick an den Rand der Hochebene und stellen uns vor, wie man den Weg von unten wohl heraufgefunden hat.
Französisch-Schweizerische Grenze
Noch ein kurzes Stück Richtung Südwesten gewandert und wir kommen an die Stelle, wo die Grenze in südöstlicher Richtung rechtwinklig abbiegt (siehe Karte oben). Steine markieren den Grenzverlauf:
Im Tal zurück
Nach einer kurzen Umleitung – der eigentliche Abstieg war wegen Waldarbeiten gesperrt – kehrten wir auf den GR 509 zurück und wanderten nach Chapelle-des-Bois. Vorbei ging es am Haus der Cordiers, das wir allerdings nur aus der Ferne sahen. Mir war vor Ort nicht klar, dass es sich dabei tatsächlich um das Haus der Familie handelt, die so vielen Verfolgten aufopferungsvoll die Flucht in die sichere Schweiz ermöglichte.
Hier verbrachte Inge Joseph ihren letzten Abend in Frankreich, bevor sie sich auf den abenteuerlichen Aufstieg auf die Hochebene machte und in die sichere Schweiz gelangte.
Ich habe einen Link im Internet gefunden. Dort steht, dass man das Haus als Ferienwohnung mieten kann: Klick
https://www.alliance-liberte.fr/storage/app/media/maison_sous_le_risoux-2016.jpg
Gedenken
In Chapelle-des-Bois angekommen, besuchte ich den kleinen Friedhof bei der Kirche. Die meisten Grabmäler tragen die Namen der drei Familien Bourgeois, Michel und Cordier aus dem Dorf.
Und tatsächlich finde ich zwei interessante Grabkreuze. Eines davon ist das Kreuz für Madeleine Cordier. Bei ihr und ihrer Schwester Victoria wohnten in Champagnole vor dem Grenzübergang Inge und viele andere. Madeleine entschied sich nach dem Krieg, Nonne zu werden, und starb in einem Kloster in Louhans.
Außerdem existiert noch das Grab von Marie-Aimée, der dritten Tochter von Hélène Cordier, die ebenfalls an der Fluchtorganisation beteiligt war.
Das Grab von Hélène und der Tochter Victoria habe ich allerdings nicht gefunden.
(Mehr zur Familie hier auf Französisch: Link)
So endete an einem wunderschönen Junitag im Jahr 2025 ein aufregender Ausflug in die verstörende und unfassbar grausame deutsch-jüdisch-französische Geschichte.
Weitere Quellen:
Gy de L'echelle
Fotos in einem kurzen, mehrsprachigen Video zur Einweihung eines Denkmals in Pont/Schweiz
Monument des Passeurs du Risoux - Inauguration
https://www.youtube.com/watch?v=beKph4webS4
Les passeurs du Risoux (Documentaire)
youtube-Video, 20 min.
https://www.youtube.com/watch?v=8c1p3gtRziM
Die Familie Cordier
https://www.alliance-liberte.fr/fr/histoire/la_famille_cordier
Das Haus der Familie Cordier ist heute eine Ferienwohnung
https://www.cybevasion.fr/d/63186192
Edith Goldapper
Diary of The Holocaust 1943-1944 (Reprint Online)
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn501281?rsc=35083&cv=0&x=1610&y=1920&z=9.3e-5
(Edith Goldapper, die ebenfalls in La Hill stationiert war, floh einige Wochen nach Inge Joseph auf demselben Weg in die Schweiz. In ihrem Tagebuch berichtet sie darüber.)
Inge Joseph
Inge Joseph. Auf den Spuren eines jüdischen Mädchens aus Darmstadt
https://ingejoseph.blogspot.com/
La tragédie des enfants de La Hille
https://histoire.redcross.ch/evenements/evenement/la-tragedie-des-enfants-de-la-hille.html
Comic/Band dessinee
Le passage d'Edith
https://www.nicoledevals-creations.com/product-page/le-passage-d-edith
Audio:
https://www.lamaitressedecolle.ch/le-passage-d-edith
Und sonst:
Einkaufen und Essen in Métabief: Klick
Gy de l'Echelle : Depuis la Thomassette
https://www.camptocamp.org/outings/1769558/fr/gy-de-l-echelle-depuis-la-thomassette
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