Fatale Begegnung
Möglicher Verlauf des ursprünglich vorgesehenen Fluchtweges: Von St-Cergues bis zum eingezeichneten Punkt sind es 8 km. Von dort bis Genf weitere 8 km
In der dritten Nacht an der französisch-schweizerischen Grenze, am 3. Januar, gegen 23 Uhr, verlässt Inge wieder das Rot-Kreuz-Heim in St-Cergues und geht den gleichen Weg wie zwei Tage zuvor. Maurice, ein älterer Mann, führt sie. Von ihm erfährt sie, wie es vor drei Tagen zu ihrer Orientierungslosigkeit kam. Die französisch-schweizerische Grenze macht einen Bogen. Sie sind zu weit nach rechts gelaufen, so dass sie beim ersten Zaun in die Schweiz und beim zweiten Zaun wieder nach Frankreich gelangt sind. Hätten sie den dritten Zaun überwunden, wären sie wieder in der Schweiz geweem!
An diesem Abend sind die Bedingungen besser als zwei Tage zuvor. Es schneit nur leicht und es ist nicht sehr kalt. Maurice bringt sie zum Zaun und zeigt ihr d Straße nach Genf.
Obwohl ich allein war, hatte ich keine große Angst. Ich hatte nur das ungute Gefühl, das man hat, wenn man an einem dunklen, unbekannten Ort spazieren geht. Es dauerte nicht lange, bis ich am Stadtrand von Genf war. Die Straßenlaternen leuchteten hell - etwas, das ich wegen der erzwungenen Stromausfälle in Frankreich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dann erblickte ich das weitläufige Ufer des Genfer Sees und die Spiegelungen der Lichter, die auf dem schwarzen Wasser tanzten. (S.207)Sie hat es geschafft! Sicher in der Schweiz.
Aus der Dunkelheit hört sie eine undeutliche Stimme. Sie versteht nichts. Die Stimme kommt immer näher und wird lauter. Inge begreift, dass sie gemeint ist. Plötzlich steht ein Schweizer Soldat neben ihr, hält sie fest und schreit laut: „Ich hätte dich fast erschossen, als du nicht stehen geblieben bist. Wer bist du, wo willst du hin?” Sie antwortet und wird auf eine Polizeistation gebracht. Dort wird sie ausgiebig verhört und erfährt: Ein neues Gesetz, das seit dem 1. Januar in Kraft ist, verlangt, dass Inge nach Frankreich zurückgebracht wird, weil sie älter als 16 Jahre ist.
Zur Erinnerung: Das Boot ist voll!
13. August 1942: Die Schweizer Grenze wird für Juden geschlossen. Juden gelten nicht als politische Flüchtlinge. „Das Boot ist voll”, heißt es in der Schweiz. (Siehe Inge Joseph #8).
Diese Regelung wurde zum Jahresbeginn 1943 auf alle jüdischen Flüchtlinge über 16 Jahre ausgedehnt.
13. August 1942: Die Schweizer Grenze wird für Juden geschlossen. Juden gelten nicht als politische Flüchtlinge. „Das Boot ist voll”, heißt es in der Schweiz. (Siehe Inge Joseph #8).
Diese Regelung wurde zum Jahresbeginn 1943 auf alle jüdischen Flüchtlinge über 16 Jahre ausgedehnt.
Sie wird zurück zur Grenze begleitet, aber vorher nimmt der Soldat sie mit zu sich nach Hause, um ihr etwas zu essen zu geben. Inge erzählt ihre Geschichte und die Frau bittet ihren Mann, Inge gehen zu lassen. Aber er sagt: Sie ist jetzt zu bekannt, zu viele Formulare wurden ausgefüllt. „Ich muss den Befehl ausführen.“
Der gehorsame Soldat fuhr mich zurück zur Grenze, hob den Stacheldraht hoch, und ich kletterte hindurch. Ich bemerkte den französischen Soldaten hinter mir erst, als ich etwa fünf Schritte zurück in Frankreich war. Er verhaftete mich, weil ich die Grenze illegal überschritten hatte und weder Ausweispapiere noch eine Reisegenehmigung mitführte. Als ob ein Jude freiwillig versuchen würde, sich von der Schweiz nach Frankreich zu schleichen! Wenigstens war er nett zu mir. (S.208)Inge verbringt die Nacht auf einer schmalen Bank am Grenzübergang und wird am nächsten Morgen um acht Uhr auf die Polizeistation von Annemasse gebracht, von wo aus sie in Handschellen mit anderen Verhafteten ins Gefängnis von Annecy gebracht wird. Bei den „Mitreisenden“ handelt es sich um Deutsche, Österreicher, Belgier und Holländer, die ebenfalls beim Grenzübertritt in die Schweiz festgenommen wurden und zurückgeschickt werden. Inge wird von den älteren Verhafteten getrennt und in eine separate Unterkunft gebracht:
Ich lege mich auf die mit Stroh gefüllte Matratze. Trotzdem war mir ziemlich kalt. Jeden Morgen brachte mir ein zweiter Polizist Kaffee und Brötchen. Zum Mittagessen kam der eine oder andere mit heißer Suppe und belegten Brötchen, die seine Frau für mich zubereitet hatte. Und das Schönste: In der zweiten Nacht gab mir der erste Polizist eine Wärmflasche, die mir seine Frau zur Verfügung gestellt hatte.Unvollständig vereinigt
Worauf sollte das alles hinauslaufen? Was machten die Franzosen mit Jugendlichen wie mir, die noch keine achtzehn Jahre alt waren? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie uns einfach frei herumlaufen ließen. Und in die Schweiz konnten sie uns auch nicht schicken.
Ich war mir sicher, dass dieser Weg schließlich zu einem deutschen Konzentrationslager führte. Vielleicht hatte dieser besondere Weg ein paar Blumen am Rand, aber das Endergebnis musste dasselbe sein. Also genoss ich die Käsesandwiches und die mitgeschickte Gemüsesuppe der Ehefrauen der Polizisten. (S.210)
Am dritten Tag nach der Gefangennahme (Mittwoch, 5. Januar) um 9 Uhr wird sie vor das französische Gericht gebracht und des illegalen Grenzübertritts angeklagt . Sechs Reihen vor ihr sitzt Walter, der sie aber nicht sieht, und sie sieht Frau Barrow vom Rotkreuz-Heim Annemasse, die ihr optimistisch zulächelt. Plötzlich, vor der Unterbrechung durch eine zweistündige Mittagspause, werden die Namen von Walter und Inge aufgerufen, sie sollen sofort zum Richter kommen:
Als Walter merkte, dass ich auch im Gerichtssaal war, begann er breit zu grinsen und hatte Tränen in den Augen. Er strich sich die Haare aus der Stirn - er brauchte dringend einen Haarschnitt. Madame schlenderte zu Walter hinüber und begann mit ihm zu sprechen, während der Polizist, der mich zum Gericht gebracht hatte und bei mir geblieben war, mich aus dem Gerichtssaal begleitete, um auf sie zu warten. Wir gingen dann ein kurzes Stück die enge Dorfstraße hinauf, Madame, Walter, ich und unsere beiden Polizeibegleiter. Walter flüsterte schnell: „Stimme einfach allem zu, was gesagt wird, unabhängig davon, ob du es verstehst oder nicht.“ (S.212)
Wie wird der Richter entscheiden?
La Hille revisited
Zu ihrer Überraschung lässt der Richter sie frei, unter der Bedingung, dass sie vom SRK nach La Hille zurückgebracht werden. Inge und Walter sind überrascht, aber Madame teilt ihnen mit, dass sie am nächsten Morgen mit dem Zug nach Toulouse fahren und von Anne Marie nach La Hille begleitet werden. Inge:
„Ich habe noch eine Frage.... Gibt es etwas Neues über unsere drei Freunde, die von den Deutschen verhaftet wurden?“
Das Lächeln verschwand aus Madames Gesicht und wurde durch einen verwirrten Ausdruck ersetzt. Wahrscheinlich war sie überrascht, dass ich eine so unangenehme Angelegenheit zur Sprache gebracht hatte. „Das Büro in Toulouse hat sich erkundigt, und die Deutschen weigern sich, sie freizulassen. Die Deutschen sagen sogar, die drei seien gar nicht mehr in Annemasse.“ (S.213)
La Hille revisited
Als wir unseren eineinhalbstündigen Spaziergang vom Bahnhof zum Château la Hille begannen, hatte ich gemischte Gefühle. Es war schön, an diesen vertrauten und einladenden Ort zurückkehren zu können. Aber gleichzeitig drückte mich ein Gefühl des Versagens.
Ich fürchtete mich vor Rösli. Ich hatte ihr das Leben so schwer gemacht. Und die anderen Kinder? Sie müssen mich hassen. Ich hatte ihnen die Chance zur Flucht vermasselt. Und dann war da noch die Sache mit der Benachrichtigung der Familien von Dela, Inge H. und Manfred. Ich kannte diese Familien nicht einmal. Wie sollte ich ihnen mitteilen, dass ihre Kinder von den Nazis gefangen genommen worden waren
Rösli und die anderen Verwaltungsangestellten ahnten unseren Gemütszustand und hießen uns herzlich in La Hille willkommen. Wie haben sie sich wirklich gefühlt? Ich werde es nie erfahren, aber ich kann mir vorstellen, dass Rösli ziemlich wütend war. Die Kinder, die uns vorausgegangen waren, waren erfolgreich in die Schweiz geflohen. Als Rösli die gleiche Aufgabe Walter und mir anvertraute, scheiterten wir auf katastrophale Weise. Und, wie ich feststellen musste, Rösli musste den Kopf dafür hinhalten. (S.214)Es kommt noch schlimmer.
No Reunion
Nach einigen Wochen teilt Rösli ihr mit, dass man von den drei anderen nichts mehr gehört habe, außer dass sie von Gurs aus in den Osten geschickt worden seien.
Was Rösli Näf nicht weiß: Alle drei werden ins Sammellager Drancy und später nach Auschwitz deportiert. Dort kommen sie um. Drancy 1941
Quelle: Bundesarchiv_Bild_183-B10919%2C_Frankreich%2C_Internierungslager_Drancy.jpg
Inge macht sich Vorwürfe und fragt sich, ob sie anders hätte handeln müssen, um ihre engen Freunde zu schützen. Diese Vorwürfe belasten sie noch Jahre später, wenn sie schreibt:
Inge H. und Manfred Vos könnte ich nicht vergessen, selbst wenn ich es wollte. Kurz nach unserer Rückkehr suchte mich Walter Kamlet, unser Intellektueller, tatsächlich auf - das erste Mal, dass das passierte - und erkundigte sich nach unserem Missgeschick. Ich erzählte ihm die Geschichte unserer Gefangennahme, mein Schicksal und wie das Schweizerische Rote Kreuz versuchte, die Freilassung von Inge H. und den anderen zu erreichen. Er hörte zu, stellte keine Fragen und gab keinen Kommentar ab. Ich war ein wenig erleichtert, denn so blieb es mir erspart, ihm von Inge H.s Weinerlichkeit unter Druck und ihren armseligen Bemühungen zu erzählen, nach unserer Gefangennahme vorzutäuschen, sie sei ein französisches Schweizer Mädchen. Danach mied er mich noch gewissenhafter als zuvor. (S.216)Ihre Versuche scheitern die Angehörige von Dela, Inge Helft und Manfred zu informieren.
Als ich einige Jahre nach dem Krieg Hanni Schlimmer, meine Brüsseler Vertraute, in New York City wiedersah, erzählte sie mir, dass sie versucht hatte, die Mutter von Inge H. in England zu besuchen und zu trösten, aber die ältere Frau wollte nichts mit ihr zu tun haben. „Warum haben du und die anderen überlebt, aber meine Inge nicht?“, fragte sie Hanni. „Ich kann es nicht verstehen.“ (S.218)
Soll alles umsonst gewesen sein? Zurück auf Los?
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