17 Juli, 2023

Inge Joseph #5: In Seyre

 


Enttäuschung
Warum ausgerechnet Seyre im tiefen Süden? Das weiß niemand. Wahrscheinlich war es eine Notlösung, als der Zug in Toulouse stecken blieb und nicht weiterfahren konnte. Die Gemeinde war auf den Ansturm von 100 neuen Bürgern nicht vorbereitet. Der Bürgermeister konnte nur ein Gebäude als Notunterkunft anbieten. Mehr hatte er nicht.
Aber alles war besser, als den Eroberern in die Hände zu fallen.

Die Lebensbedingungen im »Schloss« von Seyre, eigentlich eine Scheune, die dem Bürgermeister der Gemeinde gehört, sind äußerst beengt. Es gibt nur zwei Räume auf zwei Etagen, keine Küche (es gibt auch nicht viel zu essen), kein Wasser, keine Heizung, die Toiletten sind im Hof. 

Inges Freundin Edith Goldapper ist von ihrem neuen Zuhause in Seyre nicht weniger überrascht als Inge:
In einem Schloß würden wir untergebracht werden, sagt man uns. [...] Aber wie groß ist nun die Enttäuschung, da wir ein altes zerfallenes Haus erblicken. Das Schloß allerdings ist 10 Minuten weiter, aber nicht für uns bestimmt. Wir betreten das Haus: kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett. Eine richtige Wüste. Unsere Sachen legen wir in eine Ecke, und dann versuchen wir bei dem Bauern von gegenüber etwas Holz zu bekommen. Bald haben unsere Jungens einige Tische und Bänke gezimmert, und wir können das Abendbrot einnehmen, das uns die Bauern bringen. In verschiedenen anderen Zimmern legt man Stroh hinein. Dort werden wir dann schlafen. So bleiben wir ungefähr 3 Wochen. Dann bekommen wir Bretter und die Jungens stellen Betten her. Es ist alles sehr primitiv, aber wir sind ungeheuer glücklich.
Quelle: Edith Goldapper berichtet über ihre Flucht aus Belgien nach Frankreich im Mai und Juni 1940. Handschriftl.Tagebuch, Einträge vom 10.5.1940 bis Mitte Juni 1940 (Auch als Audio)

Gruppenbild der Mädchen der "Moyennes" (mittlere Gruppe) im Kinderheim in Seyre.
Erste Reihe (von links nach rechts): Eva Kantor, Unbekannt, Martha Storosum und Unbekannt. Zweite Reihe: Unbekannt, Trude Dessauer, Betty Schütz, Fanny Kuhlberg, Lore Flanter und Unbekannt. Hintere Reihe: Ruth Schütz, Rita Kuhlberg, Gerti Lind und Frieda Rosenfeld.

Ärger
Inge und andere Mädchen sind sehr unzufrieden mit dem belgischen Aufseher Gaspard Dewaay (manchmal auch: Dewey oder deWaay), der sich zur „most terrible scourge“ (schlimmsten Plage) entwickelt. Inge spricht manchmal sogar vom Terror, der von dem ehemaligen Straßenbahnschaffner und Leiter des Kinderheims „Herbert Speyer“ in Anderlecht ausgeht. Der Gebrauch der deutschen Sprache ist strikt verboten. Weil der jüngeren Schwester von Ruth Schütz beim Essen versehentlich ein deutsches „Was?“ herausrutscht, wird sie zu einer Woche bei Wasser und Brot „verurteilt“ - die sie allein auf dem Dachboden des Bauernhauses verbringen muss (S.71).

Noch schlimmer geht Gaspar mit den ungezogenen Jungen um. Er verprügelt sie mit einem Stock. Nach einem schweren Zwischenfall mit Gaspar und einem der Jungen verlässt der Aufseher mit seiner Frau im Oktober 1940 das Lager und kehrt nach Belgien zurück, zusammen mit vielen Vorräten, deren Herkunft und Zukunft ungeklärt bleibt, wie Inge schreibt (S.73).

Eine Gemeinschaft entsteht
Nach wenigen Wochen kommt Alexander Frank ins Haus. Alle kennen ihn vom Brüsseler Heim. Inge schreibt euphorisch:
Wenn die Armee jemals einen Mann aus jemandem gemacht hat, dann war er es jetzt. Von nun an sollte es Disziplin, Ordnung und Sauberkeit geben, aber mit einem menschlichen Gesicht. (S.74)
Er teilt die Kinder in Altersgruppen ein und organisiert die Gruppen so, dass die Älteren den Jüngeren zur Seite stehen, zum Beispiel beim selbst gestalteten Unterricht - wie in einer Schule. 
Abgesehen von der Politik war er bestrebt, uns mehr Verantwortung zu übertragen.
Er vertraute darauf, dass wir jeder Herausforderung gewachsen sein würden. Er knüpfte Beziehungen zu den Landwirten der Region und appellierte an ihren Sinn für Nächstenliebe, um ihnen dringend benötigte Lebensmittel und Vorräte zu einem vernünftigen Preis zu entlocken. Seine agronomische Ausbildung muss ihm dabei geholfen haben. Es gelang ihm, einen ständigen Vorrat an Maismehl und zeitweise auch an Milch, Eiern und Butter zu erhalten.
Er hatte Freude daran, gemeinsame Aktivitäten jeglicher Art zu fördern. Zu den denkwürdigen Aktivitäten gehörten die speziellen [Schwefel-] Bäder, die wir zur Linderung unserer Hautwunden nahmen. (S.75)
So ist unter der Leitung von Alexander Frank eine Art Kinderrepublik entstanden.

Die hygienischen Verhältnisse sind jedoch nach wie vor prekär. Im heißen südfranzösischen Sommer gibt es für die Älteren mehr Wein als Wasser zu trinken, da das Wasser erst abgekocht werden muss und es an Holz mangelt. Inge erwähnt Mademoiselle Lea und Monsieur Léon, beide Belgier, die aber am Ende des Sommers mit anderen nichtjüdischen Kindern das Haus in Seyre ohne ein Wort des Abschieds verlassen. Zurück bleiben die beiden Franks, die Köchin Glora Schlesinger mit ihrem Mann Ernst und Elias Haskelevich. Auch sie arbeiteten bereits in Brüssel mit.

Neue Enttäuschungen
Überraschend erhält Inge im Spätsommer Besuch von ihrer Cousine Hilde Loeb (Tocher der Schwester von Inges Mutter) aus Darmstadt. Sie ist mit Walter Lieberg auf der Durchreise nach Lyon, von wo aus sie in die USA ausreisen wollen. Inge wird nicht mitgenommen. Sie sucht nach einer Erklärung:
Hilde muss gute Gründe dafür gehabt haben, dass ich sie nicht begleitete, denn ich weiß, dass sie versucht hätte zu helfen, wenn sie gekonnt hätte. Ich glaube auch, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon so entmutigt war, was die Möglichkeit der Auswanderung anging, dass ich die Ablehnung nicht mehr so persönlich nahm wie damals, als Papa mich abwies. Hilde sagte, sie würde versuchen, Mutti über meinen Aufenthaltsort zu informieren. Sie versprach auch, Mutti nicht zu erzählen, wie schrecklich unsere Lebensbedingungen waren. (S.81)
Ihre Hoffnung, ebenfalls ausreisen zu können, schwindet immer mehr. Verzweifelt schreibt sie am 11.8.1940  in ihrem Brief an Lilo:
Könntest Du irgendetwas für meine Einwanderung tun? Es ist furchtbar schwierig, von hier aus ein Visum für Portugal zu bekommen. Dann bräuchte ich ein amerikanisches Visum, um mit dem Schiff zu euch zu kommen. Ich habe fast gar keine Hoffnung mehr, zu euch zu kommen. Hast du irgendwelche Nachrichten von Mutti und Papa? (S.81)
Laut Friedländer, Die Kinder von La Hille, S.39 befinden sich zu dieser Zeit 93 Kinder und 6 Angestellte in Seyre: die beiden Franks mit Irene Frank, der Mutter von Alexander, Elias Haskelevich und Irma Seelenfreund, die zwar zu den Jugendlichen zählt, aber immer in der Küche hilft.
Ingeborg Joseph: Linke Spalte, 5. Eintrag unten (19.9.1925)

Träume
Der Sommer liefert viele Früchte (Brombeeren, Feigen, Kastanien), um die karge Kost zu ergänzen. Die Bauern müssen immer mehr in den besetzten Norden Frankreichs liefern, so dass für die Flüchtlingskinder kaum etwas übrig bleibt. Manchmal gibt es nur eine Gemüsesuppe mit Brot als Hauptmahlzeit.
Aber die Frage, die uns alle beschäftigte, betraf nicht unsere Herbstdiät. Was würden wir essen, wenn die Disteln und Kastanien verschwunden waren? (S.87)

First row (left to right): Gerhard Eckmann, Guy Haas, Paul Schlesinger, Peter Bergmann, and Siegfried Findling. Back row: Edith Goldapper, Lotte Nussbaum, Inge Joseph, Ruth Klonover and Adele Hochberger.

Inge und ihre Freundinnen Ruth Schütz und Dela Hochberger haben bei allen Gesprächen immer wieder ein Hauptthema: das Essen und die Erinnerungen an einst gutes Essen.
Was würde ich dafür geben, das Huhn zu riechen, das zum Schabbatessen im Ofen brät, träumte Ruth. Und der Nudelpudding war so reichhaltig. Manchmal machte meine Großmutter zum Tee eine Linzer Torte. Ich kann immer noch die Himbeermarmelade schmecken.
Auch ich konnte mir die beschriebenen Speisen vorstellen und fast schmecken. Und weil wir so oft hungrig waren, machten mich die Beschreibungen fast verrückt. Aber ich habe nie gesagt, dass sie aufhören sollen, und manchmal habe ich meine eigenen Beschreibungen von saftigen Braten und meinem Lieblingsessen beigesteuert: Jägerfrühstück, eine Art Omelett aus Rührei und Wurst. (S.91)

Auch im Herbst 1940 geht das Leben in der Isolation weiter. Inge schreibt in ihrem Buch:
Keiner von uns hatte Kontakt zu seinen Eltern, egal ob sie in Deutschland, Belgien, England oder Nordfrankreich lebten, denn die Post war zensiert und extrem langsam oder gar nicht vorhanden, wenn man die genaue Adresse seiner Familie nicht kannte. Unsere Familien waren oft unterwegs, entweder versuchten sie, den Deutschen einen Schritt voraus zu sein, oder sie wurden von den Deutschen von Ghetto zu Ghetto oder in ein Konzentrationslager getrieben. Das letzte, was ich von Mutti hörte, war, dass die Darmstädter Juden kurz vor unserer Abreise aus Brüssel aus ihren Häusern vertrieben und gezwungen wurden, in immer kleineren Vierteln zu leben. Die winzige Wohnung, die Mutti und ich teilten, beherbergte nun Mutti und vier ihrer Verwandten. Wahrscheinlich würden noch mehr Menschen in die beengten Räume einziehen, es sei denn, das Viertel würde für Juden gesperrt werden. (S.88)
Tatsächlich zieht ihre Mutter kurz danach zu ihren Großeltern und Geschwistern am Darmstädter Ludwigsplatz 9.

Ludwigsplatz 9 Darmstadt, links das Elternhaus von Klara Joseph

Im Oktober erhält Inge einen Brief von Lilo, datiert Darmstadt, 26. August 1940, den ihr Mutti geschickt hat und in dem die Mutter der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass Lilo ihre Schwester Inge nach Amerika bringen kann. Die Mutter hatte durch Lilo von Inges Schicksal erfahren. Im Brief werden auch finanzielle Probleme angesprochen: Von Gustav gibt es kein Geld mehr (bisher 200 RM monatlich). Die Mutter weiß nun nicht mehr, wie sie die Ausreise finanzieren soll.

Hoffnung
Ab 1941 gibt es keine finanzielle Unterstützung mehr für die „belgisch-jüdischen“ Flüchtlinge durch die französische Regierung. Ende des Jahres gelingt es Alexander Frank jedoch, das Schweizerische Rote Kreuz für das Heim zu gewinnen und es unter Schweizer Schutz zu stellen.

Die Situation der Kinder verbessert sich dadurch dramatisch, denn der Leiter der Schweizer Organisation, Maurice Dubois, und Alexander Frank verstehen sich blendend.
Der Kontrast zwischen Maurice und Alex hätte nicht größer sein können. Der elegante Mann aus der Stadt war nicht zu verwechseln mit Alex, dem zerzausten Flüchtling mit den leeren Augen. Was auch immer zwischen Maurice und Alex vereinbart wurde, es führte zu sofortigen, greifbaren Ergebnissen. Was für eine willkommene Abwechslung, plötzlich pulverisierte Eier und riesige Käselaibe aus der Schweiz zu haben. Und das war nur der Anfang. Eines Tages, Ende November, tauchten mehrere Holzkisten auf. Die verschiedenen gebrauchten Jacken und Mäntel, die die Kisten füllten, kamen gerade noch rechtzeitig für den Winter. Die Jungen hatten Brüssel im Gegensatz zu den Mädchen buchstäblich nur mit dem Hemd auf dem Rücken verlassen. Aber wir alle brauchten mehr Kleidung.
Obwohl die Lebensmittel und die Kleidung willkommen waren, war unser Leben noch lange nicht luxuriös. Wir waren nicht mehr so oft hungrig wie im Herbst, aber wir aßen auch nicht mehr jeden Morgen Eier und zum Abendessen Fleischbraten. Maismehl war nach wie vor unser Grundnahrungsmittel, aber jetzt hatte Frau Schlesinger mehr Möglichkeiten, es zu veredeln.(S.92)
Weihnachten feiern?
Im Dezember gibt es eine Kontroverse unter den Jugendlichen, ob man als Jude ein christliches Fest wie Weihnachten feiern darf, auch wenn die Schweizer Mitarbeiter Geschenke vorbereitet haben. Die Meinung, es sei ein bürgerliches Fest und man dürfe die Schweizer nicht vor den Kopf stoßen, setzt sich durch. Doch Zweifel bleiben - auch bei Inge.
Wir haben nie offiziell abgestimmt, aber der Konsens war klar: Wir würden die Feier des Schweizerischen Roten Kreuzes begrüßen. Trotzdem muss ich zugeben, dass mir die Entscheidung unangenehm war. Es war, als ob wir unsere Seelen verkauft hätten, oder zumindest einen Teil unserer Seelen. Es war nicht ganz faustisch, aber die Geschichte von Fausts Pakt mit dem Teufel kam mir in den Sinn. Noch heute schäme ich mich, weil mir klar ist, dass unsere Entscheidung an jenem Dezembertag im Jahr 1940 der erste Schritt auf dem Weg zur Abkehr von unserem religiösen Glauben war, nicht nur für uns als Gruppe, sondern auch für mich persönlich. War unser religiöser Glaube nicht der Grund, warum wir überhaupt verurteilt worden waren? Und wäre das Festhalten an ihm nicht ein Weg, die Tyrannen zu bekämpfen? (S.94)
Die Kinder besorgen einen Weihnachtsbaum und schmücken ihn. Zu Weihnachten gibt es viele Geschenke von den Schweizern, aber auch einen deutlichen Hinweis von Dubois auf den christlichen Charakter des Festes und die große Persönlichkeit Jesu Christi. Doch die Kinder interessieren sich mehr für das Essen als für die christliche Lehre. Es gibt Blutwurst, Kartoffelbrei mit Apfelmus, Kuchen zum Nachtisch und die Kinder essen, als gäbe es in den nächsten vier Wochen nichts mehr zu essen, schreibt Inge in ihren Aufzeichnungen.

Der Winter wird sehr kalt, es gibt nur ein geheiztes Zimmer und alle frieren Tag und Nacht. Inge und die anderen Mädchen leiden unter einer schweren Erkältung mit Fieberschüben und Halluzinationen.

Trotzdem blicken alle voller Hoffnung auf das neue Jahr. Mit den Schweizern wird alles besser, so die einhellige Meinung. Dass der von der deutschen Regierung gesteuerte und von der französischen Vichy-Regierung unterstützte antisemitische Terror erst noch kommen würde, konnte man nicht ahnen.

Doch was würde das für die Kinder in Seyre bedeuten?

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