Zeit der Hoffnung
1941 verspricht ein gutes Jahr für die jüdischen Flüchtlingskinder zu werden. Man ist in Sicherheit, das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) hat die Verantwortung für die Kinder übernommen und ein Umzug in ein grösseres Haus steht bevor. Maurice Dubois’ Frau entdeckt ein leerstehendes Schloss, das nur von Ratten und Spinnen bewohnt wird, und ihr Mann mietet es für das SRK. Bereits im Januar beginnen die Jungs mit der Renovierung und Einrichtung des künftigen Heims.
Auch privat wird es für Inge ein gutes Jahr. (Sofern ein Leben im Exil und getrennt von allen Familienmitgliedern „gut” sein kann). Doch zunächst kommen beunruhigende Nachrichten aus der Heimat.
Beunruhigendes
Inge kann nicht mehr direkt Briefe von ihrer Mutter erhalten, sondern nur noch über den Umweg über Lilo und ihren Vater in New York. Die Mutter hofft immer noch, dass sie und Inge bald in den USA sein werden. Aber wie soll das möglich sein, wenn das Kind irgendwo in Südfrankreich und die Mutter im siegesbesoffenen Deutschland auf die Ausreisepapiere wartet? Mutti ist inzwischen umgezogen und lebt bei ihrer Mutter und anderen Verwandten in Darmstadt am Ludwigsplatz.
Rechts das Haus der Familie Neu; Inges Großeltern
Auch andere Kinder bekommen Briefe von Verwandten, aber sie klingen meist nicht so harmlos wie die Briefe von Lilo und Mutti. Oft ist von der Verschickung in besondere Lager und Konzentrationslager die Rede. Oft werden die Kinder von den in Deutschland verbliebenen Angehörigen um Hilfe gebeten (!).
Die Kinder in Seyre diskutieren die Frage, wie sie helfen können. Inge:
Die Antwort schien offensichtlich, und ich meldete mich sofort zu Wort. „Wir sollten ihnen etwas von unseren Sachen schicken. Jetzt, wo wir Lebensmittel vom Schweizerischen Roten Kreuz haben, könnten wir unsere Marmelade, unser Eipulver und unseren Zucker mit ihnen teilen.“Lotte Nussbaum stimmte schnell zu. „Auch wenn wir dann weniger zu essen haben, ist es das Opfer wert. Wir können Reismilch anstelle von echter Milch trinken. Vielleicht können wir auch ein oder zwei Mahlzeiten auslassen. Und da wir jetzt ein paar zusätzliche Mäntel und lange Unterwäsche haben, können wir diese vielleicht auch schicken.“ (S.99)
(Reismilch als billiger Ersatz für echte Milch! Wie sich die Zeiten geändert haben.)
Hilfe
In den folgenden Wochen wird so verfahren und immer wieder werden heimlich Lebensmittel und Trockenmilch gehortet. Das stößt bei der Schweizer Organisation auf Ablehnung: Die Gefangenen in den Lagern sollten von ihren eigenen Organisationen unterstützt werden. Immerhin bekommen die Kinder dank der Unterstützung des Schweizerischen Roten Kreuzes Post von ihren Verwandten aus Deutschland.
In diesen Briefen an die Kinder wird oft von Todesfällen in den Familien berichtet und Inge wird klar:
The war was beginning to claim our parents as victims, and things would only get worse. (S.102)
Aufbruch
Dennoch herrscht in Seyre Aufbruchstimmung, denn große Veränderungen stehen an.
Während die Renovierung des Schlosses La Hille zügig voranschreitet, kommt es erneut zu einem grundlegenden Personalwechsel. An Ostern 1941 trifft Rösli Näf ein, von Maurice Dubois in seinem roten Bugatti (!) vorgefahren. Sie soll für das SRK die Kinderheime in Seyre und La Hille leiten.
Rösli Näf, rechts
Rösli Näf, eine junge Schweizer Krankenschwester, nimmt sofort das Heft in die Hand. Inge schreibt:
Sie hatte einen festen Händedruck und verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. „Diese Kartoffeln sehen nicht sehr gut aus", bemerkte sie und betrachtete den Topf, den Elka und ich mit den halb verfaulten Kartoffeln gefüllt hatten, die ich geschält hatte. „Und wo ist dein grünes Gemüse?"„Wir haben schon lange kein grünes Gemüse mehr gegessen“, sagte ich. „Es ist noch früh im Frühling, und die Bauern haben noch kein grünes Gemüse.“
„Wenn ihr früh genug einen Garten angelegt hättet, hätten wir jetzt vielleicht schon Erbsen oder grüne Bohnen. Hat eine von euch schon einmal einen Garten angelegt?“, fragte sie und sah abwechselnd Dela, Ruth, Elka und mich an. Wir schüttelten alle den Kopf.
„Wir werden uns darum kümmern“, sagte sie und schenkte ihm den ersten Anflug eines Lächelns. Sie sprach bedächtig, holte zwischen den Sätzen tief Luft, als würde sie jedes ihrer Worte sorgfältig bedenken. (S.104f)
In den folgenden Wochen und Monaten werden unter Anleitung Rösli Näfs Gemüsegärten angelegt und Lebensmittel für die Kinder produziert. Rösli beeindruckt auch durch die Schilderung ihrer Erlebnisse mit Albert Schweizer in Afrika, als sie bei ihm arbeitete.
Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass Rösli zwei Seiten hatte. Sie war ein fürsorglicher Mensch, der den weniger Glücklichen helfen wollte. Gleichzeitig aber fühlte sie sich durch ihre kalte Zurückhaltung den weniger Begünstigten gegenüber überlegen. Ich merkte schnell, dass sie uns mit der gleichen Herablassung betrachtete, die sie den unwissenden afrikanischen Eingeborenen entgegenbrachte.Rösli blieb jedoch nur für kurze Zeit bei uns in Seyre, und unser Leben verlief weiterhin recht entspannt. Alex Frank kehrte alle paar Wochen zurück, um über die Fortschritte bei der Restaurierung von Château la Hille zu berichten, auf die sich unsere Gruppe immer mehr freute. Ein Schloss? Das klang zu schön, um wahr zu sein. Doch ich war zunehmend geneigt, es zu glauben, denn Alex berichtete bei seinen Besuchen von guten Fortschritten und freute sich über den Umzug dorthin.(S.106f)
Zurück auf Los?
Im Juni erhält Inge einen Brief von Mutti (15. Juni 1941): Sie hat ein Visum und eine Schiffskarte von Lissabon nach Kuba, aber es fehlt noch die Ausreisegenehmigung der deutschen Behörden; das Kuba-Visum läuft am 1. August ab. Alles sieht gut aus für Inge. Doch dann kommt der 1. August, die Mutter erhält keine Ausreisegenehmigung und das Kuba-Visum läuft ab.
Rettung
Dann die große Überraschung. Zwanzig jüngere Kinder können im April 1941 das Heim verlassen und mit Hilfe der Quäker in die USA ausreisen.
Wenig später kann auch Werner Rindsberg La Hille verlassen und mit einem Affidavit über Spanien und Portugal in die USA einreisen. Unter seinem späteren Namen Walter R. Reed veröffentlichte er 2015 ebenfalls einen Bericht über Seyre und La Hille und organisierte auch Treffen ehemaliger Bewohnern von La Hille (siehe meine Literaturliste).
Obwohl Inge ebenfalls Angehörige in den USA hat, sieht sie für sich keine Möglichkeit zur Aus- und Einreise und wundert sich.
In meinem Kopf ging es immer mehr um meine Wut auf sie und weniger um mein Selbstmitleid. Denn ich muss zugeben, wenn ich ganz ehrlich sein will, und ich habe mich hier zur Wahrheit verpflichtet, dass ich nicht das gleiche Gefühl der Verzweiflung hatte, wieder einmal zurückgelassen zu werden - im Gegenteil, ich fühlte eine gewisse Erleichterung darüber, nicht zu gehen. Irgendetwas, oder besser gesagt jemand, zerrte an mir, im Château la Hille zu bleiben. (S.122)
Umzug
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1167862
Im Juni (bei Anne-Marie Im Hof-Piguet: 30. Juni; bei Edith Goldapper: 31. Mai; Inge Joseph: Ende Juli) geht es endlich für alle nach La Hille - mit dem Zug und zu Fuß. Inge ist vom Schloss beeindruckt:
Plötzlich, wie ein Lichtschein aus einem Wald am Straßenrand, tauchte das Schloss auf. Es war wirklich eine alte mittelalterliche Festung, natürlich blass, aber in der Sonne fast gelb, und von einer hohen Steinmauer umgeben. An jeder der vier Ecken des Gebäudes waren Reste einer Zugbrücke und eines Turms angebracht.Schon von der Straße aus hörten wir das Plätschern eines Baches in den Hügeln, und der Duft von Kiefern und Weiden lag in der Luft. Als wir den langen Weg hinaufgingen, der von der Straße zum Schloss führte, schien das Schloss majestätisch zu wachsen, und ich kam mir sehr klein und menschlich vor. Ich spürte, dass ich nicht der Einzige in unserer zusammengewürfelten Gruppe war, der sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis wir unsere gute Fee und unseren Märchenprinzen treffen würden.Das Schloss war wie ein idyllisches, in sich geschlossenes Dorf. Einige der Kinder waren dabei, Brennholz zu holen. Andere waren damit beschäftigt, im Hof Unkraut zu jäten, wo ein Gemüsegarten mit Salat, Kohl, grünen Bohnen, Karotten und Radieschen wuchs. Auf einem Feld an der Seite des Schlosses schrien und lachten Jungen zusammen, während sie ein aggressives Fußballspiel spielten. [...]Als wir staunend dastanden, winkte uns Frau Schlesinger auf die andere Seite. Sie öffnete eine Tür und verkündete stolz: „Sie müssen den Speisesaal sehen, in dem Sie essen werden.“ Es war wirklich eine andere Welt. Der Speisesaal war riesig - ein Ballsaal - mit Parkettboden, dunklen, holzgetäfelten Wänden und mehreren gläsernen Kronleuchtern. Und wenn Frau Schlesinger einen Schalter umlegte, erleuchteten die Kronleuchter den Raum. Wir hatten Strom! Drei lange, picknickähnliche Tische, die mit rotkarierten Wachstüchern bedeckt waren, waren die einzigen Ungereimtheiten in dem ansonsten eleganten Raum. (S.110f)
Außerdem gab es zur Überraschung der Neuankömmlinge richtige Betten für die Nacht, zwar nur einfache aus Holz oder Metall, aber zum ersten Mal nach über einem Jahr eigene Betten! Für die älteren Mädchen gab es einen extra Raum mit nur fünf Betten, die sich Inge, Ruth Schütz, Dela Hochberger, Inge Helft und Alix Grabkowicz teilten.
Alle sind glücklich und hoffnungsvoll.
Gartenparadies
Von Rösli Näf lernt Inge das Gärtnern und sie ist glücklich damit. Ihr gefällt das Wirken im Garten, auch wenn sie deswegen und wegen ihrer Holländerschuhe „Cheval“ genannt wird.
Aber in der Gruppe verändert sich langsam etwas:
In Seyre waren wir zwar Eindringlinge, aber dennoch Teil der Dorfgemeinschaft, so klein sie auch war. Hier auf der Burg waren wir auf dem Land und völlig isoliert. Da wir Juden waren, die mit jedem Tag verletzlicher wurden, beschränkten wir unsere Wanderungen auf die wenigen Hektar, die uns umgaben. Notgedrungen bauten wir unsere eigene Gemeinschaft von Grund auf auf.In Seyre waren wir in der Lage, als eine zusammenhängende Gruppe zu arbeiten. Wir hatten zwar kleine Gruppen von engen Freunden gebildet, mit denen wir einen Großteil unserer Zeit verbrachten, aber unsere Zugehörigkeit zu diesen Gruppen stand hinter dem Gemeinwohl zurück. Im Château la Hille bedeutete der Luxus, vom Schweizerischen Roten Kreuz versorgt zu werden, dass unser unmittelbares Überleben nicht so eindeutig auf dem Spiel stand, und die einzelnen Gruppen wurden zu Cliquen, die Rivalitäten schufen, die auf alle möglichen Arten ausgetragen wurden.(115)
So wetteiferten einige Jungengruppen im Fußball, andere in Mathematik, wieder andere (Mädchen!) glänzten im Übersetzen französischer Literatur ins Deutsche und umgekehrt.
Inge wird von einigen Mädchen ihrer Gruppe verdächtigt, Rösli Näf zu unterstützen, weshalb sie Inge meiden. Inge ist niedergeschlagen. Über Rösli Näf wiederum berichtet sie von einigen verstörenden Erlebnissen, z.B. dass Rösli ein Mädchen bloßstellt, das oft ins Bett gemacht hat. Inge ist empört über die öffentliche Demütigung eines Kindes.
Trotzdem versteht sich Inge gut mit Rösli, was vermutlich zu dem Misstrauen der Mädchen geführt hat und sie belastet. Aber auch die äußeren, politisch-militärischen Verhältnisse verunsichern Inge:
Meine Ungewissheit in Bezug auf meine Beziehungen zu vielen der Mädchen verstärkte meine Unsicherheit. Ich machte mir ständig Sorgen über den Verlauf des Krieges und über das Schicksal von Mutti - zwei Sorgen, die untrennbar miteinander verbunden waren. In jenem Sommer und Herbst 1941 gab es für mich viel Grund, pessimistisch zu sein. Hitlers Triumphe häuften sich. Mit seinen Bombenangriffen auf London hatte er Großbritannien geschwächt, und nun konzentrierte er seinen Zorn auf Russland und plante eine groß angelegte Invasion. Ich verfolgte die Ereignisse nur in geringem Maße, was zum großen Teil Hans Garfunkel, einem der Mathematiker, zu verdanken war. Er war ein kleiner Teenager, der sich oft mit anderen über stumpfsinnige Kleinigkeiten stritt und bei Wettläufen und ähnlichen Wettbewerben das Nachsehen hatte, aber er war wahrscheinlich unser unersättlichster Nachrichtenjäger. Irgendwie kam er an ein altes Radio und brachte es zusammen mit einigen anderen Jungen so weit zum Laufen, dass wir gelegentlich BBC-Sendungen empfangen konnten. (S.120)
Wie geht es weiter? Wir werden sehen, für Inge beginnt ein neuer Lebensabschnitt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen