17 Juli, 2023

Inge Joseph #1: Kindheit in Darmstadt

 Alle Angaben zu Inge Joseph und auch die Fotos stammen aus der (Auto-)Biografie: 
Inge Joseph Bleier & David E. Gumpert: Inge - A Girl’s Journey through Nazi  Europe.
William B. Eerdmans Publishing Co.
Grand Rapids, Michigan  / Cambridge UK. 2004.
Wo immer möglich, versuche ich, Inge Joseph selbst mit Zitaten aus ihrem Buch zu Wort kommen zu lassen. Damit soll ein Höchstmaß an Authentizität gewährleistet werden.
Der Originaltext ist (logischerweise) durchgehend in englischer Sprache verfasst. Um den Zugang zu erleichtern, habe ich die Zitate in der Regel mit Hilfe von deepl.com/translator  übersetzt.

Ein glücklicher Beginn                                                akt. 21.11.23

Inge Joseph wird am 19.September 1925 als zweite Tochter von Julius Joseph (1885-1959) und Clara Joseph (geb. Neu, 1891-1942) geboren und wohnt mit ihren Eltern und ihrer Schwester Lieselotte in Darmstadt in der Alicenstraße 12, direkt am kleinen Alicenplatz.
 

Der Vater hat mit seinem Vater Hermann Joseph, der in der gleichen Straße Nr. 21, dem "Louvre", wohnt, das Geschäft des Großvaters übernommen. Sie betreiben in der Pallaswiesenstr. 153 am äußersten westlichen Stadtrand mit dreißig Mitarbeitern, überwiegend Frauen, eine Dampf-Talgschmelze und stellen aus dem Fett von Rindern und Schafen Rohstoffe für Schuhcreme und Seife her. Das Geschäft scheint lange Zeit gut gelaufen zu sein. Inge wird in ein gediegenes bürgerliches Milieu hineingeboren. Sie schreibt:
Wir wohnten im schönsten Teil Darmstadts, einer angenehmen, kleinen deutschen Stadt, etwa fünfundzwanzig Kilometer südlich von Frankfurt. Es gab elegante Wohnhäuser, gepflegte Parks und Straßenbahnen, die sich durch die Stadt schlängelten. [...]
   Wir hatten ein großes, luftiges Haus, drei Stockwerke hoch, mit vielen Schlafzimmern. Es lag am Alicenplatz, einer breiten Straße mit vielen Bäumen und Blumen. Damals war der Besitz eines Hauses in der Stadt ein Zeichen von besonderem Wohlstand. Meine deutlichste Erinnerung an unser Haus ist die kirschholzgetäfelte Bibliothek im ersten Stock mit vielen Büchern, in der mein Vater gerne seine wenigen freien Stunden mit Lesen und Zigarrenrauchen verbrachte. Wir hatten sogar eine Haushälterin, die das Haus blitzsauber hielt, einkaufte, kochte und auf Lilo und mich aufpasste. (S.7)
Die Familie hatte schon Telefon!

Familie Joseph, ca. 1928

Inges liebste Freizeitbeschäftigung ist das Lesen. Bis zu vier Stunden am Tag liest sie Dickens, Goethe, Marlowe; daneben treibt sie viel Sport, vor allem Tennis mit einer Cousine. Im Sommer gibt es sonntags Ausflüge in die Umgebung mit Oma Josephine (Neu, der Mutter von Inges Mutter). 
Die Familie ist sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits jüdisch geprägt. Laut Inge ist ihre Familie aber eher “reform-jüdisch”, d.h. sie leben nicht nach den strengen Regeln des jüdischen Glaubens. Vor allem die Familie der Mutter war sehr liberal, zwei Onkel waren “sogar” mit katholischen Frauen verheiratet. Inge schreibt:
Religion war in meiner Familie eine widersprüchliche Angelegenheit. [...]
Papas Familie war viel orthodoxer. Seine drei Schwestern heirateten in orthodoxe jüdische Familien ein.[...] Was mich betrifft, so lernte ich Hebräisch und die biblischen Geschichten und fand diese Lektionen eigentlich ganz gut. (S.9)
Inge, Liselotte und Mutter Klara Joseph

Für die bürgerliche Familie Joseph schien alles gut zu laufen. Das änderte sich bald.

Der organisierte Antisemitismus fasst Fuß

Waren die Geschäfte für Julius Joseph bis Ende der zwanziger Jahre sehr erfolgreich, so änderte sich dies mit der Wirtschaftskrise. Auch der väterliche Betrieb litt darunter. Ende 1931 standen einem Betriebs- und Privatvermögen von 194.165 RM Schulden in Höhe von 427.289 RM gegenüber. Die Beträge reichten von wenigen Reichsmark bis zur Höchstsumme von fast 300.000 RM bei der Volksbank Darmstadt.
Der Konkurs konnte nur durch einen gerichtlichen Vergleich mit den Gläubigern, vor allem der Darmstädter Volksbank, abgewendet werden.
Inge schreibt:
Papa arbeitete wie ein Hund, aber die Geschäfte liefen nicht gut. Es war schwer zu sagen, wie viel davon auf Papas Inkompetenz zurückzuführen war und wie viel darauf, dass seine Kunden es vermeiden wollten, mit einem jüdischen Geschäftsinhaber zu tun zu haben. Papa sprach natürlich nie darüber, wie schlecht die Dinge liefen, aber es war klar, dass sich unser Lebensstandard verschlechterte. Zunächst vermieteten wir den dritten Stock unseres Hauses als Wohnung an ein Ehepaar, das ein fünf- oder sechsjähriges Kind hatte. Es war ein Schrecken, ich hörte es über mir hin- und herlaufen, wenn ich versuchte zu lernen. Dann wurde das Hausmädchen entlassen. Dann begannen wir, Zimmer in unserem zweiten Stock an Studenten einer nahe gelegenen Universität zu vermieten. Die samstagabendlichen Opernbesuche meiner Eltern wurden seltener. Die leckeren Braten verschwanden von unserem Speiseplan. (S.10)
Kurzfristig besteht die Absicht, nach Uruguay auszuwandern, aber die Idee zerschlägt sich, vermutlich aus Geldmangel, trotz des Verkaufs aller Immobilien und der Entrichtung der Steuern.

Auch der Alltag entwickelt sich für Inge zunehmend antijüdisch:
Ich konnte schon damals erkennen, dass unser Leben in die falsche Richtung ging. Meine beste Freundin, Inge Vogel, hatte ohne ersichtlichen Grund aufgehört, mich auf dem Weg zur Schule von zu Hause abzuholen. Ich kannte den Grund. Wenn mich jemand an den Haaren zog oder mich während des Unterrichts von hinten zwickte, wurde ich immer von der Lehrerin gescholten oder bestraft und nicht das nichtjüdische Kind, das die Sache ausgelöst hatte. Ich ahnte, dass die wachsende Feindseligkeit immer schlimmer werden würde und wir irgendwie immer weniger Möglichkeiten haben würden, ihr zu entkommen. Natürlich konnte ich nicht wissen, dass Hitler Millionen von Juden ermorden würde, aber mein Instinkt sagte mir, dass die gesamte Atmosphäre ungesund war und sich wahrscheinlich weiter verschlimmern würde. (S.11f)

Gesellschaftlicher Abstieg
Wenige Jahre später traf die Familie ein weiterer Schicksalsschlag. Am 4. November 1936 wird der Vater verhaftet und beschuldigt, ranziges Fett verkauft zu haben, was zwar stimmt, aber legal war, da das Fett nicht zum Verzehr, sondern als Rohstoff für Schuhcreme und Seife bestimmt war. Die Mutter vermutet, dass die Mitarbeiterinnen den Vater “verraten” haben, es könnte sich aber auch um einen Nazi-Geldgeber gehandelt haben, bei dem Julius Joseph in Schulden geraten war. 

Die Verhaftung macht der Mutter, die wenig Ahnung von Papierkram hat, aber auch dem Vater, der von Beruhigungstabletten abhängig ist, zu schaffen. Wirtschaftlich geht es weiter bergab. Das Unternehmen geht schließlich in Konkurs.

Die Abwärtsspirale der Familie Joseph drehte sich weiter, sie beschleunigte sich sogar. Wir verloren unser Haus, als Mutti die Hypothekenzahlungen nicht mehr leisten konnte. Das Gericht und die Bankbeamten klebten gelbe Etiketten mit dem Hinweis auf den Konkurs an verschiedene Möbelstücke in unserem Wohn- und Esszimmer, die wieder in Besitz genommen werden sollten. Wir waren gezwungen, in eine dunkle Zweizimmerwohnung in einem armen Viertel der Stadt zu ziehen, wo wir uns mit zwei anderen Familien ein stinkendes Badezimmer im Flur teilen mussten. (S.15)
Es war die damalige Wendelstadtstraße 40, keine 300 Meter von der alten Wohnung entfernt, aber schon am Rand des Viertels, näher an der belebten Frankfurter Straße.
Ende 1938 wurde die Straße in Sudetengaustraße umbenannt, seit 1945 heißt sie Wilhelm-Leuschner-Straße. Das Haus sieht nicht gerade ärmlich aus, aber: Es war ein Mietshaus!

Wilhelm-Leuschner-Str. 40

Im Adressbuch der Stadt Darmstadt von 1940, S.88,  ist Joseph, Julius Israel , Fabrikant noch mit der Adresse: Sudetengaustr. 40 aufgeführt, obwohl er schon längst nach England geflüchtet war.

In der Alicenstraße 12 wohnten damals ein Metzgermeister (Brauer, Wilhelm), ein Tierarzt (Müller, Adolf) und ein Rektor (Wißner, Wilhelm). Brauer, zuvor Pächter der "Krone" in Darmstadt, hatte das Haus gekauft.
Das Glück der neuen “Bewohner” währte jedoch nicht lange. Bei einem der ersten großen Bombenangriffe auf Darmstadt in der Nacht vom 23. auf den 24. September 1943 wurde das Haus völlig zerstört und nie wieder aufgebaut.
 
Blick auf das zerstörte Haus Alicestr. 12

Auflösung der Familie

Ende 1937, mehr als ein Jahr nach seiner Verhaftung, wird Julius Joseph in einem Prozess vor dem Landgericht Darmstadt zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt, und 
trotz Muttis Bitten, ihn in einem nahe gelegenen Gefängnis unterzubringen, in ein Gefängnis geschickt, das vier Stunden Zugfahrt von Darmstadt entfernt lag. (S.15)  In Zweibrücken!
Inge lebt nun allein mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Lilo in der kleinen Wohnung. Lilo ist besessen von der Idee , in die USA zu gehen. Ihr Vater hat einen wohlhabenden Cousin in New York, zu ihm will sie. Im Juni 1938 gelingt ihr die Auswanderung, am 14. Juli verlässt sie mit dem Schiff Hamburg und damit Deutschland.
I really was happy for Lilo. But I was also unhappy for me. (S.16)
Sie schreibt über sich und das Verhältnis zu ihrer Mutter:
Ich glaube, dass ihre Abhängigkeit von mir eine Erklärung dafür ist, warum Mutti nicht darauf gedrängt hat, dass ich in die Vereinigten Staaten geschickt werde. Dann wäre sie ganz allein gewesen und hätte sich große Sorgen gemacht, dass ihre beiden Kinder auf sich allein gestellt wären. Ich kann nur vermuten, dass sie immer noch nicht ganz begriffen hat, welchen Gefahren wir ausgesetzt waren, wenn wir in Deutschland blieben. Sie muss sich eingeredet haben, dass ich als Zwölfjährige zu jung war, um allein weggeschickt zu werden, und dass sie, wenn sie Lilo erst einmal ins Ausland geschickt hatte, eine Zeitlang warten konnte, bis ich in Lilos Alter war. [...]
   Eines der schwierigsten Dinge für Mutti war Essen auf den Tisch zu bringen. Es gab keine Arbeit für Juden, und selbst wenn es sie gegeben hätte, hatte sie keine besonderen Fähigkeiten. So war sie gezwungen, Tafelsilber und andere Besitztümer zu verkaufen und bei Verwandten und Freunden zu betteln oder zu borgen. Ich erinnere mich lebhaft an einen Verwandten in Frankfurt, der uns wunderschöne selbstgebackene Kuchen schickte. Wunderbar, aber manchmal war das unser einziges Essen, zusammen mit heißem Kakao. Ich mochte Kuchen so gerne wie jeder andere, aber es ist nicht sehr befriedigend, wenn er das Einzige zum Abendessen ist. (S.17)
Der Kontakt zu ihrer Schwester reißt in den folgenden Monaten und Jahren nicht ab. Von August 1938 bis Ende 1940 schreibt Inge regelmäßig Briefe an ihre Schwester in den USA. Sie berichtet von ihrem Leben in Darmstadt, von ihren Sorgen, Wünschen und Hoffnungen, vor allem aber von ihrem sehnlichen Wunsch, selbst ausreisen zu können.
Anfangs schickt sie ihre Briefe monatlich, später, 1939, sogar alle zwei Wochen. Oft verbunden mit der Klage, nicht ebenso oft Antwort zu erhalten.

Als jüdisches Kind muss Inge nach den Sommerferien 1938 die Goetheschule verlassen, eine reine Mädchenschule, die nicht weit von Inges alter und neuer Wohnung liget. Von nun an besucht sie die liberale Synagogenschule Darmstadt. Neben den klassischen Schulfächern wird sie auch in Hebräisch unterrichtet.

Wir wissen: Die Zukunft für die Juden in Deutschland wird noch düsterer. Auch für Inge.

Anmerkung: Mehr Informationen zur "Arisierung" jüdischer Unternehmen in Darmstadt hat vor Jahren die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen
Gruppe Darmstad
t öffentlich zugänglich gemacht: Klick

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