Inge ist noch keine 14 Jahre alt - und schon Flüchtling, weil sie als Jüdin in Deutschland nicht mehr sicher war.
Das Leben bei Onkel und Tante in Brüssel ist sehr angenehm. Die Verwandten sind wohlhabend, die Tante ist jung und der Onkel viel unterwegs. Inge führt ein weitgehend selbstständiges Leben mit allem Komfort und allen Vergnügungen, die sich ein Mädchen von noch nicht einmal 14 Jahren erträumen kann: Sonntägliche Restaurantbesuche, schöne Kleider, frei von materiellen Sorgen, und, und und. Der Unterschied zu den letzten Monaten in Darmstadt könnte nicht größer sein.
Abgeschoben
Onkel Gustav Würzweiler meint, er und seine Frau seien zu viel auf Reisen und könnten sich deshalb zu wenig um Inge kümmern. Mit dieser Begründung wird sie Anfang Februar 1939 an die belgische Familie Feuerstein abgegeben. Es gibt zwar weiterhin Ausflüge mit Onkel und Tante und reichlich finanzielle Zuwendung, aber Inge fühlt sich abgeschoben.Dennoch gefällt ihr das Leben in der neuen Familie mit der gleichaltrigen Tochter und dem Sohn. Sie spielen endlos Tischtennis, schreibt sie in einem Brief vom 11. Februar 1939, und “die Feuersteins sind meines Erachtens reich, jedenfalls wohlhabend” .
(Kuriosum am Rande: In der von Inge Bleier angefertigten englischen Übersetzung schreibt sie: “As far as I can see Feuersteins are quite wealthy, or at least very rich.”)
In einem Brief vom 7. und 8.3.1939 an Lilo fragt sie:
"Hast Du vielleicht ein besseres/gutes Sommerkleid für mich, daß Du mir schicken kannst. Ich wäre einfach selig, denn ich habe in Deutschland nur 2 bekommen."
Nöte einer Dreizehnjährigen.
Eines Tages erfährt sie, dass der Onkel den Feuersteins Geld für die Aufnahme von Inge bezahlt hat. Da die Familie Feuerstein aber keine finanziellen Nöte mehr hat, muss Inge die Familie verlassen: “they no longer needed the money and were kicking me out” und
Ich fühlte mich, als hätte man mir einen Schlag in den Magen versetzt. Ich kam mir auch wie ein Narr vor, weil ich nicht erkannt hatte, dass Geld Teil der Vereinbarung war. Schlimmer noch, ich verstand jetzt, dass alle mich loswerden wollten. Mein Gesicht errötete heiß vor Wut. Die Worte sprudelten aus meinem Mund und waren an Gustav gerichtet. "Ich bin dir völlig egal. Du hast dich nie um Mutti gekümmert. Ich hoffe, dass Hitler nach Belgien kommt, damit du spürst, wie es ist!" Während mir die Tränen in die Augen stiegen, schob ich meinen Stuhl vom Tisch und rannte aus dem Restaurant. (S.34)
Und Hitler kam ja dann auch.
Von all diesen Nöten und Leiden erfährt man in den Briefen, die Inge an ihre Schwester schreibt, so gut wie nichts. Das Leben in den Briefen scheint schön und abwechslungsreich zu sein, Onkel Gu und Tante Lou kümmern sich liebevoll um die Dreizehnjährige und überhaupt gibt es kaum Probleme mit der neuen Situation.
Elka und Alexander Frank (1944)
Im Juni 1939 erfolgt die Aufnahme in das Kinderheim Général Bernheim. Das Heim wird von dem belgischen Ehepaar Elka und Alexander Frank geleitet. Alex, wie er genannt wird, ist belgischer Agronom.
Es war eine bunte Mischung von Mädchen, die das Heim aufnahm. Der Altersunterschied war groß, die Kinder hatten unterschiedliche schulische Vorbildung, manche stammten aus orthodox-jüdischen Familien, andere waren atheistisch erzogen worden, und sie kamen aus allen sozialen Schichten, aus wohlhabenden bürgerlichen Haushalten ebenso wie aus eher ärmlichen Arbeiterfamilien. Gemeinsam war ihnen nur, dass sie Juden waren.
Inge hat es nicht leicht
Inge: Oben Mitte - Brüssel 1939
https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1149037
Der Einstand im Kinderheim ist für die aus “besseren jüdischen Verhältnissen Brüssels” kommende Inge nicht leicht.
Ich war als das reiche Mädchen mit den teuren Klamotten gebrandmarkt worden, das allen anderen überlegen sein wollte. Die Strafe war Isolation und Schweigen, unterbrochen von gelegentlichen Hänseleien und Gekicher. Tag für Tag, Woche für Woche. Es war, als wäre ich in einer Schale eingeschlossen, und die Schale wurde immer dicker. (S.39)Ruth Schütz, eine Mitbewohnerin, beschreibt sie als Mädchen
mit einem Strohhut, der mit allerlei Früchten verziert war, und ihr schickes Kleid war nicht weniger lächerlich als ihr Hut über dem rotblonden Haar und ihr Gesicht und ihr knochiger Körper standen in völligem Widerspruch zu ihrer Kleidung, und als sie uns erzählte, dass sie im Sport hervorragend sei und Auszeichnungen gewonnen hatte, brachen die Mädchen in spöttisches Gelächter aus und nannten sie „Dipl" - kurz für Diplome. (Ruth Uzrad, Ein Mädchen namens Renee, S.74)Anfang Juli 1939 wird der Vater nach fast drei Jahren Haft entlassen und kommt nach Brüssel; Inge ist erschrocken über seinen desolaten Zustand. Der Vater hat als Vorbestrafter(!) dennoch ein Visum für England bekommen, seine Frau (“Mutti”) und Inge aber nicht, denn es fehlte an Geld für die Ausreisegebühr. Er hofft aber, mit seiner Frau in die USA zu kommen - allerdings ohne Inge.
Eine Welle der Übelkeit rollte durch meinen Magen. Gustav und Loulou würden sichere Häfen ansteuern. Papa, Mutti und Lilo würden glücklich in den Vereinigten Staaten wieder vereint sein. Und wo würde ich sein? In einem Flüchtlingsheim außerhalb von Brüssel verrotten? Warum schien sich niemand für mein Schicksal zu interessieren? (S.41)Sie ist kurz davor, aus dem Fenster zu springen. Ruth Schütz (siehe unten), die ein ähnliches Schicksal hat, rettet sie. Von da an hat sie engeren Kontakt zu den anderen Mädchen im Heim. In einem Brief vom 10.7.1939 an ihre Schwester vermeidet sie jeden Hinweis auf den elenden Zustand des Vaters und erst recht auf ihre eigene Verzweiflung. Sie bittet ihre Schwester lediglich, ihr kein Geld zu schicken, sondern es für die Eltern zu sparen, wenn diese in die USA kommen würden. Eine Anmerkung zu Ruth Schütz: Ruth bleibt bis Ende 1942 ihre Leidensgenossin. Erst dann trennen sich ihre Wege. Ruth Schütz gelingt es dank einer gefälschten Carte d'Identité 1943 in den französischen Untergrund abzutauchen. Sie wird für die Resistance arbeiten und nach dem Krieg nach Palästina auswandern. Auch von ihr gibt es Erinnerungen an die Zeit im Exil; siehe ihre Autobiographie:
Ruth Schütz, (auch: Ruth Uzrad / Ruth Usrad / עוזרד, רות): Entrapped Adolescence, Hebräisch 2006; Deutsch 2015 bei Independently published (23. Dezember 2020) unter dem Titel: Ein Mädchen namens Renee.
Der Sommer 1939 schien wie eine endlose Dummheit. Wir verbrachten Stunden damit, im Hinterhof Völkerball zu spielen. Die anderen Mädchen wollten immer in meiner Mannschaft sein, weil ich den großen Gummiball hart und präzise werfen konnte und schnell genug war, um aus dem Weg zu gehen, wenn der Ball zu mir geworfen wurde. Wenn es draußen regnete oder kalt war, setzten wir uns in Gruppen auf einen Teppich im Wohnzimmer des Heims und spielten ein Spiel namens "Fünf Steine". Ziel dieses einfachen Würfelspiels war es, als Erster fünf Steine zu sammeln. Das Spiel wird nach einiger Zeit geistlos, aber es hielt uns bei Laune. (S. 46)
Sonntags gibt es weiterhin Ausflüge mit Onkel Gustav und Lou. Mädchen, die keine Verwandten in Belgien haben, werden manchmal von Wohltäterinnen des Heims eingeladen, mit deren Kindern zu spielen, was nicht allen Mädchen gefällt. (S.48)
Inge blickt inn ihren Briefen an Lilo blickt Inge fast immer optimistisch in die Zukunft. Sie spricht davon, bald mit Mutter und Vater in den USA zu sein und "ich tanze mit dir in den Himmel hinein", zitiert sie einen aktuellen Schlager" in einem Brief vom 23. Juli. Lilo soll nichts von ihren Ängsten mitbekommen.
So vergeht das Jahr bis zum Herbst 1939.
Am 28.8.1939, vier Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, schreibt sie Lilo einen Brief, in dem zum ersten Mal das Thema "Kriegsgefahr" zur Sprache kommt:
Jetzt sitze ich im Garten, überlege mir was Chamberlain zum Krieg sagen wird und habe schlechte Laune. Gestern durften wir keinen Ausflug machen, da die Deutschen verhaßt sind und nicht jeder weiß, daß wir Flüchtlinge sind.
Und:
Ich glaube nicht an einen Krieg.
Und noch einmal, diesmal einschränkend:
Ich glaube noch nicht an einen Krieg., wenn ich aber die Flieger und Autos höre, werde ich unsicher. So im Ungewissen ist entsetzlich. Wenn das Schauspiel losgeht ist Belgien der Kampfplatz. da sich hier England, Frankreich und Deutschland treffen. Bon amusement. A war is the most terrible thing, which exist in the world.Es ist der einzige Brief, in dem Inge so dezidiert zur aktuellen politischen Lage Stellung nimmt. Man ahnt, was in ihr vorging. Der Krieg rückt näher Nach dem Überfall Hitlers auf Polen im September 1939 wird die Lage der deutschen Flüchtlinge, vor allem der deutschen Juden, in Belgien prekär. Die Ausflüge der Schüler in die nähere Umgebung werden seltener, denn in Belgien macht sich langsam eine deutschfeindliche Stimmung bemerkbar. Inge muss, wie auch andere Kinder des Heims, eine näher gelegene Handelsschule (École Commerciale) besuchen, wo sie Buchhaltung, Rechnungswesen und andere Bürotätigkeiten lernt. Das stößt nicht bei allen Mädchen auf Begeisterung, aber Inge nimmt es in Kauf, um später ihre Familie ernähren zu können. Aus einem Brief ihrer Mutter vom April 1940 erfährt sie, dass die Ausreiseversuche ihrer Mutter in die USA immer wieder scheitern.
"Mutti war eine Gefangene der Hölle. Ich war eine Gefangene einen Stock darüber”. (S.54)
Im Brief vom 15.4.1940 an ihre Schwester schreibt sie dennoch:
Ich denke also, daß ich in spätestens einem Jahr drüben bin, denn in Brüssel will ich nicht bleiben: Hier werde ich es nie zu etwas bringen.[...] Also, ich komme bald, du kannst schon auf den Bahnhof gehen.
Groß ist der Bedarf an Träumen, wenn die Zeiten dunkel sind.
Inge ist ein 14-jähriges Mädchen, das in Brüssel im Exil lebt. In einem Kinderheim, weit weg von ihrer Familie und ihren Verwandten.
Wie soll sie in die USA kommen?
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